Abendmusiken in der Predigerkirche
13. Januar 2013
   
     
     
Heinrich Schütz:
Musikalische Epochengestalt und konservativer Visionär
   

von Anselm Hartinger

Apollo, Amphion, Assaph und Orpheus – als Heinrich Schütz 1672 nahezu neunzigjährig starb, war kein Vergleich zu hoch, um das Ansehen und die Verdienste des Seniors der lutherischen Kirchen- und Hofmusik zu preisen. Und schon zu Lebzeiten galt Schütz als „Vater der teutschen Musik“ und „Fürst der teutschen Sänger“ – von seinem durch Reisen und Engagements in Italien und Dänemark sowie Auftritte zu hohen Reichsbegängnissen belegten europäischen Ruhm ganz zu schweigen. Durch sein langes Leben, seine über sechs Jahrzehnte hin anhaltende Produktivität und seine zentrale Position als Kapellmeister des führenden Staatswesens im evangelischen Deutschland vermochte er die Kunst seiner Zeit und ihre Stilentwicklung in einem Ausmaß zu prägen, wie dies vielleicht nur einem Petrarca, Goethe oder Racine und im kompositorischen Bereich einem Josquin, Händel, Beethoven, Mendelssohn oder Schönberg gelang.

Gerade die allgegenwärtige Durchdringung des Komponierens und Musizierens durch seine Anregungen und damit sein Erfolg als vorbildhafter Lehrer ließen im Verein mit seinem Festhalten an einem anspruchsvollen Kontrapunkt Schütz' Werk schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts mehr und mehr in den Hintergrund treten. Bereits in der vom Hofprediger Martin Geier 1672 gehaltenen Leichenpredigt auf Schütz fallen heftige Angriffe auf die „spann=newe sing=art“ der jüngeren italienischen Hofmusiker samt ihrer „bösen verkünstelten beigungen und brechungen“ auf, die neben konfessionellen Ressentiments zweifellos auf einen drastischen Stilwandel verweisen. Mit Ausnahme einiger weniger durch die Dresdener Kapelle weiter gepflegter Stücke verschwanden seine Kompositionen weitgehend aus den Noteninventaren und der Musikpraxis; auch der vergangenheitsbewußte Johann Sebastian Bach scheint ihn kaum gekannt und ihm nichts mehr verdankt zu haben. 1)   Die von einem patriotisch und kulturprotestantisch ausgerichteten Historismus angeregte Gesamtausgabe des 19. Jahrhunderts (Philipp Spitta) vermochte es zwar, die seinerzeit auffindbaren Druckwerke und Manuskripte zu dokumentieren. Mit Ausnahme einiger weniger Pioniere – etwa Johannes Brahms in Wien und Carl Riedel in Leipzig – gingen davon jedoch kaum Anstöße für die musikalische Praxis aus, wobei Schütz' von den Besetzungskonventionen der Spätrenaissance und des Frühbarock geprägte Werke die späteren Ausführenden vor noch größere Probleme stellten als etwa Bachs seinerzeit als „sperrig“ angesehene Partituren. So blieb es der Orgel- und Singebewegung des frühen 20. Jahrhunderts überlassen, Schütz‘ Werk wieder in der Breite des Musiklebens zu verankern, wobei die stark selektive Repertoirewahl und die nunmehr von Laienensembles dominierte Aufführungspraxis das Bild des Sagittarius in Richtung eines biederen Kantoreikomponisten mit begrenzter Ambition und Schwierigkeit oder gar eines „small Bach“ (Igor Strawinsky) verschoben. Erst sein 400. Geburtstag 1985 und das Zusammenfallen mit den Jubiläen Bachs und Händels gab Gelegenheit, Schütz als erstrangigen Meister von gleichfalls epochalem Rang wiederzuentdecken. Es ist dabei vor allem auch Joshua Rifkin zu verdanken, 2)  daß Schütz als „Patrizier und Meister des großen Stils“ rehabilitiert werden konnte, dessen bescheidener dimensionierte Motetten, Passionen und „Kleine geistliche Konzerte“ sich in ein primär von großbesetzten mehrchörigen Psalmkonzerten sowie (weitgehend verschollenen) Bühnenwerken geprägtes Schaffensprofil einordnen. Auch steht Schütz’ zu Recht vielgerühmte Sprachdeklamation als Kunst der verkündigungsorientierten Wortvertonung keineswegs im Widerspruch zu einer ungleich ambitionierteren Klangarchitektur. Dieser Sicht auf Schütz als musikalischen Großmeister und standesbewußten Hofkapellmeister sowie Vermittlerfigur von europäischem Rang fühlt sich auch das vorliegende Programm verpflichtet.

 

II.

Kaum ein Werk dieser Sammlung vermag den jugendlichen Impetus der 1619 erschienenen „Psalmen Davids sampt etlichen Moteten und Concerten“ so überzeugend zu verkörpern wie das jubelnde „Ich freu mich des, das mir geredt ist“ (Psalm 122). In einem nimmermüden Tripeltakt, der von den Sonaten Lodovico Viadanas inspiriert scheint, wird hier der gesamte Psalmtext mehr skandiert als gesungen, wobei Schütz' Kunsthaftigkeit darin liegt, den schlagkräftigen Wortvortrag so auf die vier beteiligten Chöre zu verteilen, dass sich im steten Wechsel der Registrierung fast eine Art in Stimmen ausgeformter „unendlicher Melodie“ ergibt. Ganz im Sinne der Tradition Gabrielis rechnet Schütz dabei mit einer räumlich wirkungsvollen und „creutzweisen“ Aufstellung der je zwei solistischen Favorit- und verstärkenden Capell-Chöre sowie mit einer reichhaltigen instrumentalen Auffüllung des Klangapparates und gerade auch seiner hohen und tiefen Randlagen.

Die Gattung des Dialogs kann als eine mögliche Übertragung der neuen dramatischen Formen der seconda pratica (Monteverdi) und des stylus theatralis (Bernhard) auf die geistliche Sphäre betrachtet werden. Schütz gestaltet in seinem im Rahmen des Teiles III „der Symphoniae Sacrae“ von 1650 erschienenen Concert „Mein Sohn, warum hast Du uns das getan?“ zunächst die von Lukas geschilderte Suche Marias und Josephs nach ihrem zwölfjährigen Sohn, der sich heimlich in den Tempel aufgemacht und dort gelehrt hatte. Über einem schmerzvoll absteigenden Quartgang des Continuo entfaltet sich die sorgende und vorwurfsvolle Ansprache der  beiden Eltern, wobei sich in der dosierten Chromatik und effektvollen Klangrede Schütz als erfahrener Bühnenmusiker zeigt. Die mit einem kecken Quintsprung beginnende Antwort des Puer Jesus stellt diesen hingegen als selbstbewussten Gottessohn vor, der sich mit altklugem Selbstbewusstsein im Hause seines wahrhaftigen „Vaters“ behauptet. Der unmittelbar folgende Tuttieinsatz verwandelt dann mit den Worten des 84. Psalms die biblische Geschichte  in eine ekstatische und gegenwärtige Kollektivvision des himmlischen Jerusalem - „Wie lieblich sind deine Wohnungen“! In für die „Symphoniae Sacrae“ typischer Weise hat Schütz dabei den sechsstimmigen Kernsatz um ein vierstimmiges vokal-instrumentales „Complementum si placet“ erweitert, das vor allem im beschwingten Schlußabschnitt reiche Klangwirkungen ermöglicht. 

Das nur handschriftlich in Kassel erhaltene Psalmkonzert „Herr, der du bist vormals genädig gewest deinem Lande“ SWV 461 gehört nicht nur zu Schütz’ ausgedehntesten Werken. Es gehört auch offenkundig zu seinen „politischen“ Kompositionen, wobei die intensive Bitte um Frieden und Gerechtigkeit wie die Warnung vor der Torheit selbst unter den Heiligen Wolfram Steude vermuten ließen, das Stück sei zum Leipziger Convent der evangelischen Reichsfürsten 1631 entstanden, zu dem die Dresdener Kapelle in großer Besetzung anreiste und bei dem der Hofprediger Hoe von Hoenegg auch über diesen Psalm predigte. Schütz befleißigt sich dabei zunächst einer eindringlichen solistischen Diktion, bevor zu den Worten „Tröste uns Gott“ alle neun Sing- und fünf Instrumentalstimmen in einen zu Herzen gehenden Hilferuf ausbrechen. Die dafür gewählte syllabische Diktion samt Wechsel in einen Dreiertakt entspricht der rhetorischen Figur eines Noema, einer Hervorhebung durch bewusste Vereinfachung sowie konträre Rhythmisierung und Klangverstärkung.

Fast noch eindringlicher ist das zum Himmel steigende Seufzen „Ach, dass ich hören sollte, dass Gott der Herr redete, dass er Friede zusagete seinem Volk“ gehalten – an Schütz’ gleichermaßen lapidarer wie repräsentativ ausgreifender Komposition hat es gewiß nicht gelegen, dass auch dieser Krisengipfel der Mächtigen scheiterte und sich die Vorfreude des zweiten Teils mit ihrem naiv erleichterten Ton („Es ist ja, ja, ja, ja, ja, ja seine Hilfe nahe!“) alsbald ins Gegenteil verkehrte. Wenn auch der Dreissigjährige Krieg hinsichtlich seiner Auswirkungen auf Land und Bevölkerung in der neueren Historiographie eine je nach Region und Zeitpunkt differenzierte Bewertung erfährt, so offenbaren Schütz’ lange fluchtartige Abwesenheiten (etwa in Dänemark) und seine auf leichter ausführbare und geringstimmig besetzte „Kleine geistliche Konzerte“ (1636/39) umgeschwenkte Publikationsstrategie doch das Ausmaß der zeitbedingten Einschränkungen, denen nicht nur Heinrich Schütz’ epochale musikalische Pläne, sondern oft genug auch die pure Daseinsvorsorge seiner Dresdener Kapellmusiker weitgehend zum Opfer fielen.

Schütz’ zweite Italienreise 1628/29 hatte hingegen noch der stilistischen Weiterbildung sowie dem Erwerb neuer Musikalien und Instrumente für den Hof gedient. Neben das klangstrukturelle und satztechnische Erbe Gabrielis traten nun mit Claudio Monteverdi und Allessandro Grandi Meister der jüngeren Generation, dank deren Anregung Schütz sich im Concertieren nach den Regeln der wortbezogenen seconda pratica habilitierte. Unmittelbarer Ertrag der Studien war Schütz’ Opus ecclesiasticum secundum von 1629, die „Symphoniae Sacrae“, bestehend aus 20 Concerten für eine bis drei Vokalstimmen sowie ungewöhnlich farbig besetzte obligate Instrumente. So fordert das zweiteilige Concert „Anima mea liquefacta est / Adiuro vos, filiae Hierusalem“ neben zwei Tenören zwei als „Fiffaro, o Cornettino“ bezeichnete Stimmen, die im Verein mit den elegant fließenden Vokallinien für eine außergewöhnlich zarte Klangwelt sorgen, die das „Dahinschmelzen“ der Seele in Gegenwart des Geliebten perfekt illustriert. Der dem Hohelied Salomonis eigene, verzückt schmachtende Erzählton findet sich dabei in einer kaum verschlüsselten musikalischen Erotik umgesetzt („amore langueo“), die – ähnlich wie die italienischen Madrigale op. 1 von 1611 – das zählebige Bild vom strengen „Kirchenmusikdirektor“ Schütz als einseitig erscheinen lässt.

Die dem Thomanerchor und den Ratsherren der Stadt Leipzig gewidmete „Geistliche Chor-Musik“ markiert eine Zäsur in Schütz’ gedruckten Kompositionen. Nach zahlreichen Veröffentlichungen im konzertierenden Generalbaßstil wandte er sich mit der Motette einer bisher von ihm kaum bearbeiteten Traditionsgattung zu. Anders als die fast ein Vierteljahrhundert zuvor veröffentlichten lateinischen geistlichen Madrigale der „Cantiones Sacrae“ legte er nun eine Sammlung deutscher Spruchmotetten vor, die zugleich als Stellungnahme zu aktuellen Entwicklungen der Musik verstanden werden sollte. Auf den in den Jahren zuvor ausgetragenen Streit zwischen dem Danziger Organisten Paul Siefert und dem Warschauer Hofkapellmeister Marco Scacchi zu Fragen der Satzweise und Textbehandlung ging Schütz zwar – wiewohl von beiden Kontrahenten hineingezogen – im Vorwort der Ausgabe nur indirekt ein. Dafür jedoch las er seinen jüngeren Kollegen heftig die Leviten, indem er sie aufforderte, vor der Pflege des effektvollen „concertirenden Stylo“ zunächst die „harte Nuß“ des unbegleiteten Kontrapunktes „auffzubeissen“, da sich nur auf diese Weise die zu einer „regulirten Composition nothwendigen Requisita“ erlernen ließen. Doch handelt es sich bei Schütz‘ Motettensammlung dennoch um kein trockenes „Musicalisches Kunstbuch“, sondern um eine vielgestaltige Folge fünf- bis siebenstimmiger Werke (teilweise mit Instrumenten), der der Komponist – angeblich auf Bitten des Verlegers – sogar eine Generalbaßstimme hinzufügte. „Das Wort ward Fleisch“ offenbart dabei ein Verständnis von Kontrapunkt, das konzertante Bildungen, textorientierte Wortdeklamation und implizite Chorbildungen keineswegs ausschließt. Wichtiger als das fugierte Imitieren ist Schütz offenkundig der makellose und in allen Stimmen singende Satz.

Die beiden Stücke von Giovanni Gabrieli und Andreas Hammerschmidt stehen für Schütz’ Rolle als Schüler und Lehrer bedeutender Musiker und verkörpern damit die Position des Sagittarius als Vermittler von Stiltraditionen. Daß Schütz noch in Johann Matthesons „Grundlage einer Ehrenpforte“ von 1740 in der Biographie von nicht weniger als vier Musikern der jüngeren Generation (Matthias Weckmann, Christoph Bernhard, Caspar Förster, Heinrich Albert) als Leitfigur und Förderer auftaucht, entspricht insofern seinem jahrzehntelangen Wirken. Andererseits sind nicht zufällig viele der herausragenden Spätwerke Giovanni Gabrielis allein in deutschen Quellen überliefert – etwa in Schütz‘ Einflußsphäre in Kassel und Marburg. Gehörte es doch nach 1600 für begabte Musiker aus dem Raum nördlich der Alpen fast zum guten Ton, eine Lehrzeit bei Gabrieli in Venedig mit anschließender Veröffentlichung eines Madrigalbuches zu absolvieren. Zu dieser Kompositionsklasse des „hochberümbten, aber doch zimlich alten Musicus und Componisten“ gehörte von 1609 bis 1612 Heinrich Schütz, für den Gabrielis großformale Strukturen und die differenzierte Klangpracht der venezianischen Mehrchörigkeit lebenslang eine prägende Inspirationsquelle darstellten. Die im nach g transponierten ersten Modus gesetzte achtstimmige „Canzon primi toni“ verwendet den klassischen Canzonenrhythmus  und weist im steten Wechsel kontrastierender Abschnitte das spielfreudige Erscheinungsbild der Gattung auf. Der aus dem böhmischen Brüx stammende und später als Organist in Freiberg und Zittau tätige Andreas Hammerschmidt gehörte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem mit seinen „Musicalischen Gesprächen“ zu den verbreitetsten Komponisten. Seine sechsstimmigen „Fest- und Zeitandachten“ von 1671 verraten die Kenntnis des geschmeidigen Kontrapunktstils der Geistlichen Chormusik von 1648, gelangen jedoch zu einer einleuchtenden Geradlinigkeit und Überzeugungskraft. Wie sehr Schütz als Förderer junger Musiker im evangelischen Teutschland wirkte, wird an einem Lobgedicht deutlich, das der sprachgewandte Sagittarius zu Hammerschmidts Motettensammlung von 1653 beitrug. Darin heißt es u.a.: „Fahrt fort / als wie ihr thut / der Weg ist schon getroffen / Die Bahn ist auffgesperrt / Ihr habt den Zweck erblickt.“ Aus dem Mund des Altmeisters gewiß ein ermutigender Ritterschlag, für den sich Hammerschmidt später in der Vorrede seiner „Fest- und Zeitandachten“ revanchierte, indem er Schütz als „das eintzige Licht der Musicalischen Wissenschafft in unserem Deutschlande“ bezeichnete. Zudem griff Hammerschmidt mit seinem Insistieren auf einer kirchengemäßen Ausführungsweise und der Kritik an einem übertriebenen „coloriren“ der Stimmen (vor allem durch mitlaufende hohe Bläser) Schütz’ bewahrende Tendenz demonstrativ auf.

Die Aufnahme eines Magnificat in eine an einer liturgischen Vesper orientierte Abendmusik bedarf kaum der Begründung. Bildet doch der im Lukasevangelium überlieferte Lobgesang Marias als bekanntestes der drei neutestamentlichen Cantica einen festen Bestandteil dieses traditionell reich ausgestatteten Stundengebetes, weshalb gerade aus dem 16. bis 18. Jahrhundert zahlreiche großangelegte Vertonungen erhalten sind. Auch Schütz hat sich mehrfach des Magnificat angenommen, wobei sich zwischen der kammermusikalischen Version für Sopran und wechselnde Begleitinstrumente aus den „Symphoniae Sacrae“ II (SWV 344) und der mehrchörigen lateinischen Vertonung SWV 468 eine große Bandbreite auftut. Das Deutsche Magnificat „Meine Seele erhebet den Herren“ SWV 494 gehörte zur Sammlung „Königs und Propheten Davids Hundert und Neunzehender Psalm in eilf Stükken Nebenst dem Anhange des 100 Psalms: Jauchzet dem Herrn! Und Eines deutschen Magnificats: Meine Seele erhöbt den Herrn. Mit acht Stimmen auf zweien Köhren über die gewöhnlichen Kirchen-Intonationen componieret“, die 1671 in Dresden erschien und in der der greise Schütz als „Churf. Sächs. Ältester Capell-Meister“ firmierte. Das lange Zeit einzige erhaltene Exemplar der Sammlung ging jedoch im II. Weltkrieg verloren, weshalb bis zur Wiederauffindung und Teilrekonstruktion eines Stimmensatzes durch Wolfram Steude 1985 lange Zeit nur Schütz’ mit einer Widmung an den Kurfürsten versehene handschriftliche Continuostimme einen Eindruck von diesem monumentalen Spätwerk vermittelte (erhalten übrigens in der Autographensammlung des Schriftstellers Stefan Zweig). Doch hatte sich in den Beständen der Fürstenschule Grimma eine im Detail abweichende alte Abschrift allein des Magnificat erhalten, die den Begriff des „Schwanengesangs“ mitteilt und damit Schütz vermutlich letzte Komposition unter das Signum eines Vermächtniswerkes stellt. Wie die gesamte Sammlung, so ist auch das abschließende Magnificat einer rückwärtsgewandten Schreibweise verpflichtet, die in der Beschränkung auf zwei blockhaft geführte Vokalchöre ohne obligate Instrumente jene Kunst der Sprachvertonung und Wortdeklamation hörbar macht, die Schütz während seines gesamten Schaffens auszeichnete. Schütz, der sich für die Ausführung des Werkes eine räumliche Trennung der beiden Chöre, eine solistische Besetzung sowie die Verwendung zweier Continuoorgeln wünschte, gelangt dabei im steten Wechsel der Klangmassen sowie in der Einbeziehung knapper Imitationen und treffend ausdeutender Figuren („und zerstreuet, die hoffärtig sind“)  in ein primär akkordisches Ablaufkonzept zu einer auffallend lebendigen Vertonung. Die von ihm seit den frühen 1650er Jahren wiederholt reklamierte „Altersschwäche“ erweist sich somit weniger als echte Resignation sondern als planvolle Strategie zur Reduktion der höfischen Dienstpflichten im Dienste jener Konzentration auf das „colligiren, completiren, und zu meinem andencken auch in den Druck geben“ seiner „angefangenen wercke“, wie sie das Oeuvre des späten Schütz insgesamt verkörpert. In diesem Bemühen um die Vollendung und Bewahrung seiner eigenen Musterwerke ähnelt Schütz dem späten Johann Sebastian Bach, mit dem er zugleich die lebenslange Aufmerksamkeit für das Potential anderer Stilkreise und nachfolgender Generationen teilt. Wie Bach erweist sich Schütz als traditionsbewußter Visionär, dessen Autorität und Ausstrahlung ein ganzes musikalisches Zeitalter prägten, an den jedoch erst nach einer Epoche der partiellen Vergessenheit und nach manchen missverständlichen Renaissancen angeknüpft werden konnte.

Daß die von Martin Luther in Deutsche übersetzte Antiphon „Verleih uns Frieden gnädiglich“ samt der von Johann Walter ergänzten – und gegen alle tonale Logik – heute häufig ausgelassenen Ergänzung „Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit“ in der Fassung der „Geistlichen Chormusik“ zu Schütz populärsten Werken gehört, verdankt sich wohl zugleich der unablässigen Aktualität jener Friedensbitte wie der eindringlichen Schlichtheit der Komposition. Noch Hugo Distler hat in seinem „Jahrkreis“ von 1933 eine dreistimmige Neufassung der Schützschen Vorlage versucht, die die alle Klänge und Linien durchziehende herbe Eleganz seiner Vorlage durch weitere Reduktion der musikalischen Mittel jedoch eher unterlaufen als erreicht oder gar überboten hat.

 

1) Bach-Dokumente, Bd. III, 803.

2) Joshua Rifkin, Henrich Schütz. Auf dem Weg zu einem neuen Bild von Persönlichkeit und Werk, in: Schütz-Jahrbuch 1985, S. 5–21.

 








Heinrich Schütz, 42-Jährig
Henricus Schutzius Serenissimi Electoris Saxoniae Capellae Magister Aetatis Suae : XLII
Kupferstich, 15.6 x 9.9 cm : August John, 1627







Christoph Spetner (1617-1699): Heinrich Schütz, um 1660
Öl auf Leinen, Universität Leipzig, Musikinstrumentenmuseum

 

Dokumentation:
Albert Jan Becking