Abendmusiken in der Predigerkirche 10. Februar 2013 |
|||
Franz Tunder –
|
|||
von Cosimo Stawiarski Franz Tunder gehört zu eben jenen norddeutschen Komponisten, die dem heutigen Konzertbesucher wohl eher unbekannt sein dürften. Geboren wurde er nach neuestem Forschungsstand im Jahre 1614 in Lübeck (nicht in Bannesdorf nahe Burg auf Fehmarn, wie noch immer in vielen Musiklexika angegeben) 1). Über seine Jugend respektive seine erste musikalische Ausbildung ist nichts bekannt – möglicherweise erhielt er Unterricht von dem Lübecker Marienorganisten Petrus Hasse. Zu Beginn des Jahres 1632 weilte er zu Studienzwecken in Kopenhagen und machte Bekanntschaft mit Melchior Borchgrevinck, einem Schüler Giovanni Gabrielis. Ob zwischen Borchgrevinck und Tunder ein Lehrer-Schüler-Verhältnis bestand, lässt sich nicht mehr ermitteln, jedoch geht die Ernennung Tunders zum Organisten am Hofe Herzog Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf im Dezember desselben Jahres mit ziemlicher Sicherheit auf Borchgrevincks Vermittlung zurück. Johann Mattheson erwähnt für die Zeit vor 1632, dass Tunder „in Italien bey dem weltberühmten Frescobaldi gelernet“ 2) habe, allerdings wird dieser Sachverhalt von der heutigen Forschung stark angezweifelt. Während seiner Zeit als Organist in Gottorf erfuhr Franz Tunder wahrscheinlich die prägendsten Eindrücke für seine weitere musikalische Laufbahn. Der seit 1616 regierende Herzog Friedrich III. war ein ausgewiesener Förderer von Wissenschaft, Kunst und Kultur. Sein Ziel war es, durch die Verpflichtung der besten Maler, Bildhauer und Musiker Schloss Gottorf zum „Cimbrischen Musensitz“ 3) auszubauen, einem der bedeutendsten kulturellen Zentren des nördlichen deutschsprachigen Raumes. Hier in Gottorf stand Tunder ein zwar kleines, qualitativ jedoch hervorragendes Instrument zur Verfügung, welches erst wenige Jahre zuvor durch seinen Amtsvorgänger Johann Heckelauer aufwändig restauriert und erweitert worden war und noch heute in der Schlosskapelle bewundert werden kann. Zwar ist die Geschichte der Gottorfer Hofmusik in der musikwissenschaftlichen Sekundärliteratur verhältnismäßig gut dokumentiert 4), doch liegt der genaue Umfang von Tunders Betätigung dort weitgehend im Dunkeln. Von Amts wegen war er „lediglich“ als Organist bestallt und somit zur Ablieferung gottesdienstlicher Figuralmusik nicht verpflichtet, dieses oblag einzig und allein dem Hofkapellmeister. Gleichwohl wird die Realität anders ausgesehen haben, denn über viele Jahre blieb der Posten des Kapellmeisters unbesetzt und Tunder hatte ad interim dessen Aufgaben zu übernehmen. Ganz sicher wird er die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste nicht ausschließlich mit eigenen Werken bestritten haben, denn die Gottorfer Hofkapelle verfügte bereits damals über eine ansehnliche Musikalienbibliothek, dennoch ist sehr wahrscheinlich, dass Tunders kompositorische Tätigkeit in Gottorf ihren Anfang nahm. Durch Zufall hat sich ein sehr seltenes schriftliches Zeugnis erhalten, welches von einem Gottesdienstbesuch in der Gottorfer Schlosskapelle aus dem Jahr 1633 oder 1634 berichtet. Es stammt von Jan Adriaanszon Leeghwater, einem holländischen Wasserbauingenieur, der von Herzog Friedrich III. damit beauftragt wurde, die Dagebüller Bucht einzudeichen; er schreibt: |
|
||
Im Jahr 1641 – inzwischen verheiratet mit der Tochter des Gottorfer Hofschneiders – bewarb sich Tunder erfolgreich auf die durch den Tod Petrus Hasses freigewordene Stelle als Organist an St. Marien in Lübeck, die er in der Folgezeit bis zu seinem Tod am 5. November 1667 innehatte. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, welche neuen Perspektiven sich ihm durch den Wechsel von dem absolutistischen Hofstaat an die wichtigste Kirche der reichsfreien hanseatischen Metropole eröffneten. Lübeck mit seiner direkten Anbindung an die Ostsee war bereits seit dem Mittelalter eine der bedeutendsten und vor allem wohlhabendsten Handelsstädte im nördlichen Europa und verfügte über eine ausgesprochen reiche, florierende Kulturszene, die regelmäßig durch üppige Zuwendungen seitens der lübecker Bürger und Kaufleute bezuschusst wurde. Die Bürgerschaft war es auch, die Tunder dazu bewegte, mit den sogenannten Abendmusiken, die bis zum Jahr 1673 noch als „Abendspiele“ bezeichnet wurden, die erste regelmäßig durchgeführte öffentliche Kirchenmusikveranstaltung außerhalb eines liturgischen Kontextes zu begründen. Der lübecker Kantor und Musikdirektor Caspar Ruetz schildert im Jahr 1752 den Ursprung dieser Konzertreihe folgendermaßen: „Es soll sich nemlich in alten Zeiten die Bürgerschafft, ehe sie zur Börse gegangen, den löblichen Gebrauch gehabt haben, sich in der St. Marien Kirche zu versammlen, da denn der Organist zu einigen Zeiten ihnen zum Vergnügen, und zur Zeit=Kürtzung, etwas auf der Orgel vorgespielet hat, um sich bey der Bürgerschafft beliebt zu machen. Dieses ist sehr wohl angenommen worden, und er von einigen reichen Leuten, die zugleich Liebhaber von der Music gewesen, beschencket worden. Der Organist ist dadurch angetrieben worden, erstlich einige Violinen, und ferner auch Sänger darzu zu nehmen, biß endlich eine starcke Music daraus geworden […]“. 6) Ruetz erwähnt weiterhin, er habe „einen Mann von einigen 90 Jahren gesprochen, der sich noch wohl erinnern kunte, daß in seiner Jugend diese Musicken in der Woche, und zwar auf einem Donnerstag gehalten worden. Damahls soll, laut Aussage dieses Mannes, der Lerm und das Geräusch bey der Music noch ärger gewesen seyn, als anjetzo. Welches eben der Bewegungs=Grund soll gewesen seyn, warum diese Musicken ohne Zweifel, mit Genehmhaltung der Obrigkeit, auf die obgemeldeten Sonntage verleget worden.“ 7) Die Abendmusiken entstanden also zunächst primär, um die vom Börsenalltag gestressten Lübecker Bürger zu unterhalten und wandelten sich erst im Laufe der Zeit zu einer eigenständigen, öffenlichen Konzertveranstaltung, die wegen ihres freien Eintritts von allen Schichten der Bevölkerung besucht wurde. Wann genau die von Ruetz erwähnte Verlegung von wöchentlich donnerstags auf die fünf Sonntage vor Weihnachten stattfand, ist nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln, möglicherweise geht sie auf Tunders Amtsnachfolger Dieterich Buxtehude zurück, der sich dadurch weniger Störungen des musikalischen Ablaufs und eine breitere Zuhörerschaft versprach. Doch wie mögen die Abendmusiken zu Franz Tunders Zeit in der Marienkirche ausgesehen haben? Sicher ist, dass es sich noch nicht – wie später bei Buxtehude – um große fünfteilige zyklische Oratorien handelte. Diese sind erst ab 1684 belegt und keines ist – sieht man einmal von dem bezüglich der Autorschaft umstrittenen „Wacht! Euch zum Streit gefasset macht!“ ab – bis heute erhalten geblieben. Lediglich einige wenige Textbücher vermitteln einen bescheidenen Eindruck von diesen allem Anschein nach monumentalen Kompositionen. Von den von Tunder veranstalteten Abendmusiken existieren bedauerlicherweise weder Programme, noch Augenzeugenberichte, deswegen kann man lediglich Vermutungen zum gespielten Repertoire anstellen. Wahrscheinlich ist, dass er die Konzerte mit einigen wenigen Instrumentalisten und Sängern bestritt und dem Veranstaltungsort gemäß geistliche Musik zur Aufführung brachte. Im Grunde kommen dafür quasi alle unter Tunders Namen überlieferten Kompositionen in Betracht, vielleicht unter Auslassung derjenigen Werke, die beispielsweise durch ein angehängte Doxologie die Wiedergabe in einem liturgischen Kontext wahrscheinlicher erscheinen lassen. Das erhaltene Œvre Franz Tunders ist ausgesprochen übersichtlich. Neben 14 authentischen Orgelkompositionen, haben sich eine „Sinfonia à 7 viole“ und 17 Geistliche Konzerte erhalten, von denen eines ganz sicher und das andere sehr wahrscheinlich nicht von ihm selbst stammen sondern lediglich Umtextierungen zeitgenössischer Werke italienischer Provenienz darstellen (siehe auch: „Salve mi Jesu“ und „Salve cœlestis Pater“). Nicht zuletzt aus diesen beiden Fehlzuweisungen ist ersichtlich, dass sich Tunders Tonsprache zumindest in seinen lateinischen Kompositionen stark an italienischen Vorbildern orientiert und er sich bezüglich der Satzkunst ganz auf der Höhe der Zeit befand. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach Tunders Lehrern immer wieder diskutiert, ohne letztendlich zu einem plausiblen Ergebnis zu gelangen. Lange Zeit ging man davon aus – vor allem aufgrund der Aussage Matthesons –, er habe einen Studienaufenthalt in Italien absolviert. Das lässt sich jedoch nur schwer mit seiner Biographie in Einklang bringen. Viel eher wird es so gewesen sein, dass Tunder die Kompositionsweise der Italiener sehr eingehend studierte und sie in seinen eigenen Werken zunächst zu imitieren versuchte um dann schließlich zu einem Personalstil zu gelangen, der zwar eine starke Affinität und Orientierung an italienischer Schreibweise aufweist, sie zugleich aber auch mit typisch norddeutschen Elementen verschmelzen lässt. Ein sehr augenfälliges Beispiel dafür, ist Tunders Vorliebe für den fünfstimmigen Streichersatz, welchen wir in dieser Form auch bei fast allen seiner norddeutschen Zeitgenossen wiederfinden. Während die Italiener schon sehr bald nach Aufkommen der seconda prattica eine Begleitung mit lediglich zwei – zum Teil sehr virtuos geführten – Violinen zur Norm erhoben und auf den instrumentalen Mittelbau verzichteten, entwickelte sich in Norddeutschland eine Satzweise, die sich mehr durch Polyphonie und Vollstimmigkeit, denn durch überbordene Virtuosität auszeichnet. Die Quellen sämtlicher überlieferter Vokalwerke Franz Tunders – und damit der größte Teil seines musikalischen Nachlasses – befinden sich heute als Teil der sogenannten Dübensammlung in der Universitätsbibliothek Uppsala. Es handelt sich dabei allerdings nicht um Autographe sondern um Abschriften, die von dem schwedischen Hofkapellmeister Gustaf Düben und seinen Kopisten angefertigt wurden. Die Dübensammlung gilt heute neben der in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufbewahrten Sammlung Bokemeyer (deren Grundstock wiederum interessanterweise die Musikalienbibliothek der Herzöge von Schleswig-Holstein-Gottorf, Tunders erstem offiziellen Arbeitgeber, bildet) als wichtigste und umfassendste Quelle norddeutsch-protestantischer Vokalmusik des 17. Jahrhunderts überhaupt. Besonders hanseatische Komponisten wie beispielsweise Tunder, Buxtehude, Weckmann, Bernhard etc. sind in ihr stark vertreten. Es wird angenommen, dass Düben einige dieser Musiker auf seinen Reisen nach Deutschland persönlich kennengelernt hatte und sie ihn regelmäßig mit ihren neuesten Kompositionen versorgten. Zumindest für Tunder und Buxtehude ist ein solcher persönlicher Kontakt belegt. Gustaf Düben fertigte von den ihm zur Verfügung gestellten Vorlagen zumeist eine Partitur in norddeutscher Orgeltabulatur an – diese Form der Niederschrift war ungemein praktisch, da sie nicht im Ansatz so viel Platz beanspruchte, wie eine normale Partitur – und schrieb nach ihr bei Bedarf die Stimmen für seine eigenen Aufführungen aus. Im Falle Tunders ist die Dübensammlung ein ungemeiner Glücksfall, denn ohne sie müssten sämtliche seiner Vokalwerke als verloren gelten. Wie bereits angedeutet, lassen sich Tunders Kompositionen grob in zwei Kategorien einordnen: zum einen die lateinisch textierten, eher italienisch geprägten Werke zum anderen die dem norddeutschen Habitus verschriebenen Stücke. Zur ersten Kategorie gehört zweifellos das Eröffnungsstück dieser Abendmusik, eine Vertonung des 127. (126.) Psalms „Nisi Domius ædificaverit domum“. Hierbei handelt es sich um eines der wenigen liturgisch gebundenen Stücke Tunders, welches aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb eines Vespergottedienstes erklang. Zwar hatte mit der Reformation die Verdrängung der lateinischen Sprache aus den protestantischen Kirchen begonnen, jedoch hielt man in den Abendvespern noch bis weit ins 18. Jahrhundert an ihr fest – einer der Hauptgründe, warum aus dem 17. Jahrhundert eine derartige Fülle lateinischer Psalmvertonungen protestantischer Komponisten überliefert sind. Das Werk trägt den Titel „Nisi Dns: a. 5: a 10“, was darauf hinweist dass es sowohl mit 5 – also unter Auslassung der Instrumente – als auch mit 10 Stimmen aufführbar ist. Ob diese Alternativbesetzung von Anfang an von Tunder konzipiert war oder ob es sich hierbei schlicht um eine Bearbeitung Gustaf Dübens handelt, ist nicht mehr zweifelsfrei zu klären, sie bedingt jedoch zwangsläufig, dass die Stimmen der beteiligten Instrumente sich nicht eigenständig am motivischen Geschehen beteiligen können und lediglich eine begleitende und klangverstärkende Funktion erfüllen. Dem gegenüber steht das andere großbesetzte lateinische Stück des Abends, das Konzert „Dominus illuminatio mea“ über Worte aus dem 27. (26.) Psalm. Auf den ersten Blick scheint es dem „Nisi Dominus“ zwar relativ ähnlich, jedoch weist es stilistisch sehr viel deutlicher in Richtung italienischer Vorbilder eines Monteverdi oder Rovetta, denn Tunder verzichtet hier auf die Mittelstimmen und lässt die Instrumente am musikalischen Geschehen rege teilhaben. Dem Werk liegt zwar ein Psalmtext zugrunde, jedoch ist dieser nicht komplett und gehört auch nicht zum regulären Vesperkanon – konsequenterweise wird er deswegen auch nicht durch eine Doxologie abgeschlossen. Die beiden anderen lateinischen Stücke des Konzerts „Salve cœlestis Pater“ und „Salve mi Jesu“ besitzen einen komplett anderen, sehr viel intimeren, kammermusikalischen Charakter, als die beiden zuvor besprochen. Sie sind zwar beide unter Tunders Namen überliefert, de facto handelt es sich aber um Umtextierungen von „Salve Regina“-Vertonungen italienischer Provenienz. Solche „Protestantisierungen“ finden sich auch in anderen Quellen der Dübensammlung, meist dann, wenn es im Original um Marienverehrung geht, die ja eher eine Domäne der katholischen Kirche war und immer noch ist. Für eines der beiden Werke, das Konzert „Salve mi Jesu“, ließ sich der Komponist ausfindig machen. Es handelt sich um den Venezianer Giovanni Rovetta, der sein „Salve Regina“ für Alt, fünf Streicher und Basso Continuo im Jahre 1647 innerhalb seiner Sammlung „Motetti Concertati a Due e Tre Voci, Libro Terzo, Opera Decima“ veröffentlichte. Ungewöhnlich für Italien erscheint hier die vollstimmige Streicherbesetzung, die mutmaßlich die besondere Bedeutung des Textes hervorheben sollte. Gleichwohl stellt Rovetta die Mitwirkung der Mittelstimmen frei und macht das Werk somit auch in der Standardbesetzung für Gesang, zwei Violinen und Basso Continuo aufführbar. Die originale Vorlage für das andere Konzert „Salve cœlestis Pater“ konnte bisher noch nicht identifiziert werden und somit bleibt es vorerst auf der Liste der Tunderschen Kompositionen – allerdings nicht ohne Fragezeichen, denn zu viele Gründe sprechen gegen seine Autorschaft. Da ist zum einen die Nähe des Textes zur marianischen Antiphon „Salve Regina“ und zum anderen existiert eine weitere, von der Musikwissenschaft bislang unbeachtet gebliebene Quelle des Werkes unter der Signatur 3482B in der Kantoreibibliothek der Stadtkirche St. Nikolai zu Luckau in der Niederlausitz – hier allerdings mit der Textunterlegung „Salve Rex Jesu Christe misericordiæ“ und ohne Autorenangabe. 3482B ist ein für die Luckauer Musikpraxis angelegter Sammelband und enthält hauptsächlich Geistliche Konzerte mitteldeutscher und italienischer Herkunft. Natürlich kann nicht komplett ausgeschlossen werden, dass das Werk – wie auch immer – seinen Weg von Lübeck in die Niederlausitz fand und dort umtextiert wurde, sehr wahrscheinlich ist es aber nicht. So ist die plausibelste Lösung, dass sowohl die Handschrift aus Uppsala als auch die Abschrift aus Luckau auf die gleiche italienische „Salve Regina“-Vorlage zurückgehen und unabhängig voneinander mit einem protestantischen Text versehen wurden. Wenden wir uns nun den deutsch textierten Kompositionen Tunders zu, deren Authentizität im Gegensatz zu den zuvor besprochenen als gesichert gelten kann. Zu den schönsten und eindrücklichsten seiner Stücke gehört wohl das Geistliche Konzert „Ach Herr, lass deine lieben Engelein“ für Sopran, vier Streichinstrumente und Basso Continuo, welches in einer Handschrift Gustaf Dübens auf das Jahr 1664 datiert wird. Diese Angabe hat bezüglich der Entstehung des Werkes selbstverständlich als Terminus ante quem zu gelten, denn sie bezieht sich lediglich auf das Jahr der Entstehung von Dübens Manuskript und gibt keinerlei Auskunft über den Kompositionszeitpunkt. Als textliche Grundlage diente die dritte Strophe des um 1567 von Martin Schalling verfassten Chorals „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ wobei auf die Verwendung der zugehörigen Melodie zugunsten einer detaillierten Textausdeutung verzichtet wurde. Das Werk gliedert sich grobformal in zwei kontrastierende Teile, im Zentrum steht eine in homophonem Satz gehaltene Sinfonie. Der erste Teil ist geprägt von der Anrufung Gottes, mit der Bitte, Leib und Seele nach dem Tod bis hin zum jüngsten Tag in Frieden ruhen zu lassen. Der in diesem Zusammenhang benutze Ausdruck „Abrahams Schoß“ bezeichnet einen Ort des Wartens, bevor dem Verstorbenen die Pforte zum Himmel geöffnet wird. Die Innigkeit des Textes wird dabei durch die begleitenden Streichinstrumente gesteigert. Der zweite Teil des Werkes hat die Vorfreude auf das Leben nach dem Tod und den Lobpreis Gottes zum Gegenstand. Er steht im vergleichsweise schnellen 3/1-Takt und wird immer wieder durch eine Verbreiterung des Tempos auf die Worte „Herr Jesu Christ, erhöre mich“ unterbrochen. Die Subtilität mit der Tunder hier die Textvorlage in Musik überträgt, steht in seinem Vokalschaffen unerreicht dar. Das Konzert „Wachet auf! ruft uns die Stimme“ ist zwar für eine ganz ähnliche Besetzung geschrieben (Sopran, drei Streichinstrumente und Basso Continuo), unterscheidet sich von dem vorherigen jedoch entscheidend. Textgrundlage ist die erste und zweite Strophe des gleichnamigen Chorals von Philipp Nicolai, welcher sich inhaltlich auf das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen sowie die Prophezeiungen Jesajas bezieht. Im Gegensatz zu „Ach Herr, lass deine lieben Engelein“ verwendet Tunder hier nicht nur den Text des Chorals sondern auch seine chrakteristische Melodie mit dem aufsteigenden Dreiklang gleich zu Beginn. Während er sich bei der Vertonung der ersten sechs Zeilen noch sehr genau an die Liedvorlage hält, bricht er ab der siebten aus dem engen Choralkorsett aus und verarbeitet die einzelnen Motive im Wechselspiel mit den Instrumenten auf konzertante Art. Auf den schlesischen Dichter Angelus Silesius geht der Text der mit „Aria a 10, 5 voc 5 instrom“ überschriebenen Komposition „Streuet mit Palmen“ zurück. Auch wenn der heutige Konzertbesucher den Begriff „Aria“ wahrscheinlich eher mit Sologesang assoziiert und weniger mit einem großbesetzten Werk für 5 Vokal- und ebenso viele Instrumentalstimmen, so ist die Bezeichnung für die Barockzeit hingegen völlig korrekt gewählt, da sie sich im Grunde lediglich auf eine alternierende Abfolge von Strophen und Ritornellen bezieht. Die auf dem von Gustaf Düben um 1667 angefertigten Stimmensatz zu diesem Stück angebrachte de-tempore-Angabe „Palmarum“ ist allerdings etwas irreführend, denn es geht in Silesius’ Gedicht weniger um Jesu Einzug in Jerusalem als vielmehr um die Vorbereitungen auf seine Geburt. Bemerkenswert ist, dass Tunder aufgrund der extremen Kürze der einzelnen Textstrophen jeweils zwei zusammenfasste und zu einer musikalischen Strophe verband; ohne diesen Kunstgriff wäre das Stück wahrscheinlich extrem repetitiv geraten. Für die gleiche Besetzung, jedoch vom Gesamtumfang wesentlich ausladender ist das Geistliche Konzert „Hosianna dem Sohne Davids“ auf einen kurzen Text aus Matthäus 21, Vers 9. Der Angabe Gustaf Dübens zufolge ist es für die Adventszeit bestimmt, allerdings passt es inhaltlich genauso gut zum Sonntag Palmarum. Das Werk besteht aus einer einleitenden Sinfonie und mehreren mehr oder weniger voneinander getrennten Abschnitten, die alternierend immer wieder denselben Text vortragen: entweder „Hosianna dem Sohne Davids“, welcher stets unter Benutzung des gleichen motivischen Materials als eine Art Refrain im Tutti vertont ist, oder „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herren“, der in Besetzung und Motivik ständig variiert. Der allerletzte Abschnitt bringt dann schließlich den noch fehlenden Teilsatz „Hosianna in der Höhe“ unter Beschäftigung sämtlicher Sänger und Instrumente.
1 Birgner, Gerhard Kay, Artikel: Franz Tunder in Lübeck geboren!, in: Lübeckische Blätter 161, Heft 16, Lübeck 1996, S. 248 2 Mattheson, Johann, Grundlage einer Ehren=Pforte, Hamburg 1740, Artikel: Minde, S. 227 3 „Cimbrien“ (Synonym für lat. Chersonesus cimbrica, dt. Cimbrische Halbinsel) ist ein in der Frühen Neuzeit vorwiegend in literarischem Kontext verwendeter Begriff für ein Gebiet, welches sich über weite Teile Norddeutschlands sowie den kontinentalen Teil Dänemarks erstreckte. Es umfasste das heutige Bundesland Schleswig-Holstein mitsamt der Freien und Hansestadt Hamburg, sowie das dänische Jütland. 4 Vgl auch: - Friedhelm Krummacher, Die Überlieferung der Choralbearbeitungen in der frühen evangelischen Kantate : Untersuchungen zum Handschriftenrepertoire evang. Figuralmusik im späten 17. u. beginnenden 18. Jahrhundert (= Berliner Studien zur Musikwissenschaft, Band 10), Merseburger Verlag Berlin 1965 - Winfried Richter, Die Gottorfer Hofmusik, Studie zur Musikkultur eines absolutistischen Hofstaates im 17. Jahrhundert, Phil. Diss. Uni Kiel 1986, mschr. 5 Zitiert nach: Dorothea Schröder, „Sehr angenehm und ergötzlich“ – das Musikleben am Gottorfer Hof, in: Gottorf im Glanz des Barock, Kunst und Kultur am Schleswiger Hof, Band 1: Die Herzöge und ihre Sammlungen, herausgegeben von Heinz Spielmann und Jan Drees, S. 294, Wachholtz Verlag, Neumünster 1997 6 Caspar Ruetz, Widerlegte Vorurtheile von der Beschaffenheit der heutigen Kirchenmusic, Lübeck 1752, S. 48 7 Ruetz, a. a. O., S. 47f. |
Dokumentation: |
||
|