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Abendmusiken in der Predigerkirche 12. Mai 2013 |
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Nicolaus Bruhns Im Advent 1665 |
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"Ein braver Organist und verträgsamer Mann" Nicolaus Bruhns sei "ein braver Organist" gewesen, "anfänglich zu Husum im Holsteinischen, und hernach zu Copenhagen, gegen die Helffte des abgewichenen Seculi, hat schöne Clavier-Stücken gesetzet". So lautet der kurze Eintrag im Musikalischen Lexikon Johann Gottfried Walthers (1732), der dies nicht als Unwissender schrieb, sondern einige Stücke von Bruhns selbst kopiert und mit Verzierungen versehen hatte, nachweislich z.B. die bekannte Choralfantasie "Nun komm der Heiden Heiland". Ein 12-zeiliger Bericht über Nicolaus Bruhns findet sich schon 1723 in der Kirchen- und Schulgeschichte Husums des dortigen Pastors Johann Melchior Krafft. Er nannte Bruhns einen "trefflichen Meister in seiner Profession" und "verträgsamen Mann". Johann Mattheson wusste 1740 in seiner Ehrenpforte dann bereits etwas ausführlicher über den Husumer Organisten zu berichten. Diese Berichte konnte Ernst Ludwig Gerber schliesslich 1812 noch weiter ausschmücken, sodass wir in dessen Neuem historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler (Leipzig 1812) den längsten Artikel über Nicolaus Bruhns finden. 1 Als Johann Sebastian Bach nach Norddeutschland reiste, war Bruhns bereits gestorben. Bach brachte jedoch Musikhandschriften zurück nach Mitteldeutschland, die entscheidend zur Vermittlung norddeutscher Orgelwerke beitrugen, u.a. die Präludien in e-Moll und G-Dur von Bruhns. Von dieser stilistischen Affinität berichtet auch C.Ph.E. Bach im Nekrolog auf seinen Vater (1754): "Er nahm sich Werke Bruhnsens, Reinkens, Buxtehudens und einiger guter französischer Organisten zu Mustern." Auch Johann Joachim Quantz (1752) rechnet Bruhns zusammen mit Reinken und Buxtehude zu denen, die "fast am ersten die schmackhaftesten Instrumentalstücke ihrer Zeit für ihre Instrumente" gesetzt haben. Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass die Vermittlung der Kreise um J.G. Walther und J.S. Bach, sowie der Berliner Organisten des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit den bedeutenden lexikalischen Einträgen Matthesons und Gerbers dazu geführt haben, dass Bruhnsens Orgelwerke auch im 19. Jahrhundert nicht in Vergessenheit gerieten, sondern zumindest in Teileditionen publiziert worden sind. Sogar der in Husum geborene Schriftsteller Theodor Storm (1817–1888) beschreibt – zu einer Zeit, in der sich der Musikstil und die Klangästhetik längst gewandelt haben – noch einmal die phänomenale Wirkung der Musik der Husumer Stadtorganisten Nicolaus und seines Bruders Georg in der Erzählung "Renate" (Berlin 1878). Ein kurzer Ausschnitt mag uns ungeachtet seines spätromantisch-idealisierten Duktus in die nordfriesische "graue Stadt am Meer" entführen: "Da ich endlich in die Stadt und nach dem Markt hinunterkam, stunden schon die Giebel der Häuser dunkel gegen den Abendhimmel, und war ob des Sonntages eine große Stille auf der Gassen; nur aus der alten Kirche hinter den Lindenbäumen tönete ein sanftes Orgelspiel. Ich wußte wohl, es sei der Organiste Georg Bruhn, des noch berühmteren Nicolaus Bruhn Bruder und successor, der es liebte, in den Schummerstunden nur für sich und seinen Gott seine meisterliche Kunst zu üben; und da ich inne ward, daß die Kirchthür unter den sogenannten Mutterlinden offen stund, so ging ich hinein und setzete mich in der Nordseite still in eines der alten Mönchsgestühlte. Es war aber, wenn gleich die Bäume draußen schon die meisten Blätter abgeworfen hatten, hier innen eine Dämmerung, daß ich die Bilder und Figuren an den Epitaphien, so diese gewaltige Kirche zieren, nur kaum erkennen mochte. Gleichwohl spielte da droben der unvergleichliche Meister noch immerzu; und wie ich so in meiner Ecken saß, ganz allein hier unten, und von dem Dunkel immer mehr umhüllet ward, in das hinein die lieblichen Tongänge der Flöten und Oboen gleich sanften Lichtern spielten, da war mir, als wenn die beiden Engel drüben von dem Crucifix des Altarbildes zu mir herabflögen und mich mit ihren güldenen Flügeln deckten." 2 Zurück ins 20. Jahrhundert: Erst ab 1972 ist eine komplette Ausgabe der fünf erhaltenen Orgelwerke greifbar (hg. Klaus Beckmann): vier Präludien und eine ausgedehnte Choralfantasie (über "Nun komm der Heiden Heiland"). Die ausserdem überlieferten 12 Vokalwerke von Bruhns sind trotz einer vor dem 2. Weltkrieg erschienenen Gesamtausgabe 3 bis jetzt nur einer kleinen Hörerschaft bekannt. Sie umfassen acht Solo-, Ensemble- und Choralkonzerte, drei madrigalische Kantaten und eine 'Concerto-Aria'-Kantate.
Lehr- und Wanderjahre Nicolaus Bruhns wurde 1665 in Schwabstedt geboren und wuchs in einer Musikerfamilie auf, die über drei Generationen das musikalische Leben in Lübeck, Hamburg, Schwabstedt und Husum gestaltete. Sein Grossvater Paul d.Ä. arbeitete als Lautenist am Gottorfer Schloss und wirkte unter Franz Tunder an den Lübecker Abendmusiken mit. Sein Onkel Friedrich Nicolaus war Direktor der Hamburger Ratsmusik, während der andere (Peter) als Geiger und Ratsmusiker in Lübeck tätig war, u.a. auch bei den Abendmusiken Buxtehudes. Bei seinem Vater Paul d.J. (1640–1689?) lernte Nicolaus in Schwabstedt schon früh das Orgelspiel und die Komposition. Mit 15 Jahren ging er nach Lübeck, um sich auf der Violine und Viola da Gamba bei seinem Onkel Peter weiterzubilden. Mattheson berichtet, dass er "auf der Viola di gamba, und vornehmlich auf der Violine" eine solche Fertigkeit erlangte, "daß er von allen damahls lebenden Musicbeflissenen, die ihn kannten, sehr werth und hochgehalten wurde. Im Clavier und in der Composition ist er sonderlich bemühet gewesen, dem berühmten Dieterich Buxtehude, Lübeckischen Organisten an der Marien-Kirche, nachzuahmen; hat es auch darin zu solcher Vollkommenheit gebracht, daß ihn dieser, auf Verlangen, nach Copenhagen recommandirt." Einem jungen Organisten seiner Generation konnte im Grunde nichts besseres passieren, als in der Obhut von zwei Meistern sich im Instrumentalspiel und in der Komposition perfektionieren zu dürfen! In dieser Lernphase ging es natürlich kaum mehr um grundlegende Kompositionstechniken, sondern um Imitation der neuesten stilistischen Idiome und auch um konkrete spieltechnische Details, die den Meistern abgelauscht oder "abgelernet" wurden. So berichtet z.B. Bruhns Kollege Georg Dietrich Leyding (1664–1710) über den Unterricht bei Buxtehude, Lübeck und Reinken, er hätte diese Musiker "gehöret, die besten Kunstgriffe, durch ihre anführung ihnen abgelernet, auch unterschiedliche rare stücke von ihnen erhalten [...].“ 4 Mit einem Empfehlungsbrief Buxtehudes in der Tasche und mit Vermittlung seines späteren Schwagers, Johann Hermann Hesse, machte sich Bruhns 1686/87 auf nach Kopenhagen. Die Umstände seines dortigen Aufenthalts sind nicht ganz geklärt; er scheint sich aber als Geigenvirtuose hervorgetan zu haben und war vermutlich Stellvertreter des Organisten der Nicolaikirche, Johann Lorentz (1610–1689), der nach Studien in Hamburg und Italien 1634 königlicher Hoforganist und Musiklehrer Christian V. war. Neben Lorentz war zu dieser Zeit der aus Güstrow stammende und zuvor in Stockholm und Göteborg tätige Christian Geist (1650–1711) tonangebend in der Ausprägung eines von Peranda und Albrici beeinflussten italienischen Stils, verbunden mit der deutschen Tradition extravaganter Geigen- und Gambenstimmen. Ausserdem hatte der Hof eine Geigentruppe um den französischen Geiger Gaspard Besson engagiert.
"... seines gleichen von Composition und Tractirung allerley Arten von Instrumenten in dieser Stadt vorher nicht war gehöret worden" Im Januar 1689 starb der Organist der Husumer Stadtkirche, Friedrich zur Linden. Der Stadtrat wollte Bruhns diese Stelle anbieten und liess ihn suchen, da sein momentaner Aufenthaltsort nicht bekannt war. Schliesslich kam Bruhns zu einem Probespiel am 29.3.1689 nach Husum und erhielt sofort die Stelle zu einem Jahreslohn von 400 Talern, da "vorher seines gleichen von Composition und Tractirung allerley Arten von Instrumenten in dieser Stadt vorher nicht war gehöret worden", wie der Husumer Pastor Krafft 1723 schrieb. Wenige Monate später versuchte die Stadt Kiel den "weltberühmten" Bruhns zu einem höheren Gehalt abzuwerben; er schien auch bereit gewesen zu sein, die neue Stelle im August 1689 anzutreten. Doch dank einer Gehaltsaufbesserung um 100 Taler gelang es dem Husumer Stadtrat, Bruhns als Marienorganist bei sich zu behalten, in einer Kirche, die zu ihrer Zeit als die "grösste und zierlichste" des ganzen Herzogtums Schleswig gerühmt wurde, mit einer wohl dreimanualigen Hauptorgel, die 1629 von Gottfried Fritzsche erbaut worden war. Als Organist hatte Bruhns die Aufgabe, in den Gottesdiensten zu präludieren und zu postludieren, Choralbearbeitungen sowie hie und da anstelle der Chorgesänge Motettenintavolierungen o.ä. zu spielen. Es war auch üblich, nach der Predigt oder wenn der Chor nicht verfügbar war, eine kleinbesetzte "Organistenmusik" aufzuführen. Solche Stücke wurden in der Regel nicht im Chor oder auf Seitenemporen musiziert, sondern von der Orgelempore, zusammen mit einzelnen Solosängern und Instrumentalisten. Gerade in Norddeutschland gegen Ende des 17. Jahrhunderts haben sich manche Organisten durch ihre langjährige Ausbildung bei berühmten Meistern und ihre Wanderjahre Fähigkeiten erworben, die das alte Rollenverständnis der Unterordnung unter den gelehrten Kantor in Frage stellten. Sie waren nicht nur in der Lage (wie z.B. Buxtehude, Reinken, Lübeck und Bruhns), situationsgerecht frei oder über Choralgesängen zu improvisieren, sondern konnten auch im jeweils neuesten Stil komponieren und entsprechend den Qualitäten der vorhandenen (Berufs-)Musikern mehr oder weniger anspruchsvolle Partien schreiben. Deshalb gab es bisweilen ein starkes Spannungsfeld zwischen der traditionellen Kantoreimusik und der innovativeren Organistenmusik. In Lübeck, Hamburg, Kiel und Kopenhagen ermöglichten regelmässige Konzertstunden, Abendmusiken oder besondere Vespergottesdienste die Einbettung grösserer kirchenmusikalischer Werke oder langer Orgelstücke. Ob diese Praxis auch in Husum üblich war, ist bis jetzt nicht bekannt. Bruhns scheint jedoch seine organistischen Freiheiten genützt und zudem einen guten Kontakt zum dortigen Kantor Georg Ferber (1646–1691) gehabt zu haben, der als ausnehmend guter Bassist bekannt war und das Kantorenamt von 1673–1691 ausübte. Möglicherweise schrieb Bruhns seine beiden Konzerte für Bass ("De profundis" und "Mein Herz ist bereit") für ihn. Sein Nachfolger wurde Petrus Steinbrecher (1659–1702), der wie Bruhns in Lübeck studiert hatte. Das Instrumentalensemble wurde 1667–1702 vom Stadtmusikanten Heinrich Pape geleitet. Noch im ersten Anstellungsjahr heiratete Bruhns Anna Dorothea Hesse, die Stiefschwester seiner Tante. Das Paar hatte fünf Kinder. Bruhns starb überraschend am 29. März 1697 in seinem 31. Lebensjahr, möglicherweise an Tuberkulose. Das letzte Kind wurde erst kurz nach dem Tod des Vaters geboren. Der einzige Sohn, Johann Paul, studierte Theologie.
Gut vernetzt Nicolaus Bruhns hatte durch familiäre und studentische Kontakte ein dichtes und weitläufiges Beziehungsnetz aufgebaut. Dies schloss Beziehungen zu Hamburger und Lübecker Ratsmusikern ebenso ein, wie zu Buxtehude und seinem Kreis, sowie der Orgelfamilie Hasse. Kontakte bestanden zu dem nur eine knappe Tagesreise von Husum entfernten Gottorfer Hof, der das Schloss Husum als Nebenresidenz führte, u.a. über den in Husum ab 1684 als Arzt praktizierenden Gottorfer Kapellmeister Johann Philipp Foertsch (1652–1732). Dessen Nachfolger Georg Österreich (1664–1735), schätzte Bruhns offenbar sehr: In der von Österreich angelegten und seinem Nachfolger Heinrich Bokemeyer veräusserten umfangreichen Musikaliensammlung von 1800 Vokalwerken sind 11 der 12 erhaltenen Vokalstücke Bruhns überliefert (von Buxtehude sind 9 Kompositionen vorhanden).
"Eine ganz originelle Manier" Ausgehend von einer Tätigkeit als praktischer Musiker und Tastenvirtuose, dessen Fokus ganz auf der improvisatorischen Tätigkeit lag, war es in der Zeit vor 1700 nicht zu erwarten, dass dieser eine grosse Menge an handschriftlichen oder gar gedruckten Kompositionen produzierte. Gemessen an den Tausenden von Gottesdiensten, die ein Organist wie Buxtehude, Reinken oder Lübeck im Laufe seines Lebens musikalisch zu gestalten hatte, ist die Ausbeute von durchschnittlich erhaltenen 20-40 Orgelstücke reichlich mager. Ein grosser Schülerkreis erhöhte allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass Stücke des Lehrers nicht nur von diesem selbst gespielt wurden. Da keine direkten Hinweise auf eine Unterrichtstätigkeit Bruhns vorliegen, können wir dankbar sein, dass wenigstens fünf Orgelstücke von Bruhns der Nachwelt überliefert wurden. In seinen vier Präludien zeigt er sich als ein Meister des stylus phantasticus in dem er Elemente wie freie Einleitungen, virtuose Pedalfiguren, abrupte Abbrüche, starke dissonante Stellen, Tempowechsel, von den Geigen inspirierte Arpeggiofiguren und Echoeffekte mischt mit kurzen Tanzsätzen (häufig Giguen) und bis zu sechsstimmigen Fugen mit Doppelpedal. In seinen Stücken scheinen Stilmerkmale seiner Vorgänger und Lehrer Weckmann, Scheidemann und Buxtehude verschmolzen mit seinen eigenen Fähigkeiten als virtuoser Geiger, die offensichtlich besonders gerühmt wurden: "Weil er sehr starck auf der Violine war, und solche mit doppelten Griffen, als wenn ihrer 3. oder 4. wären, zu spielen wuste, so hatte er die Gewohnheit, dann und wann auf seiner Orgel die Veränderung zu machen, daß er die Violine zugleich, mit einer sich dazu gut=schickenden Pedalstimme gantz allein, auf das annehmlichste hören ließ." (Mattheson 1740). Noch eindrücklicher tönt diese Anekdote in der Mitteilung Gerbers (1812): "Er suchte seine Zuhörer auf eine ganz originelle Manier zu unterhalten ... so zerarbeitete er sich sich oben auf der Violine, indem er mit den Füssen vermittelst einer schicklichen Pedalstimme den Bass dazu spielte, was dann allgemeines Vergnügen und grosse Bewunderung und Staunen erregte." Im Concerto "Mein Herz ist bereit" für Bass, Violine und Basso Continuo ist diese Technik zu hören. Man könnte sich sogar vorstellen, dass Bruhns dabei auch noch die Basspartie selbst gesungen hat...
Hemmt euer Tränen Fluth Dieser (nach P. Wollny 1690 entstandene) Ostertext eines unbekannten Dichters liegt auch einer Vertonung des Leipziger Thomaskantors Johann Schelle zu Grunde. Während Schelle aber den Akzent auf die Überwindung des Todes und den österlichen Jubel legt und für Chor mit vier Trompeten ein festliches Konzert komponiert, wählt Bruhns eine intimere Besetzung mit vier Sängern und Streichern. Sie thematisiert die Stimmung der Jünger zwischen dem Versinken in einer bodenlosen Trauer und Verzweiflung, dem Zuspruch der Engel: Das Grab ist leer! und der daraus entstehenden Zuversicht. Die durchkomponierte Kantate – in der einzigen erhaltenen Quelle Madrigale betitelt – wechselt zwischen von den Streichern gespielten Ritornellabschnitten (mit Tremulo-Figuren), solistischen Partien und blockartigen Vokaleinwürfen. Das Amenthema der Schlussfuge ist melodisch aus der ersten und zweiten Zeile des Chorals "Christ lag in Todesbanden" gebildet. Der Vergleich zum 5. Satz aus Bachs Kantate "Christ lag in Todesbanden" (BWV 4) drängt sich auf, in welchem der Thomaskantor dieselbe Motivtechnik verwendet!
Ich liege und schlafe Diese Begräbniskantate beginnt und schliesst mit einer äusserst eindrücklichen Vertonung von Psalm 9, 4 für 4-stimmigen Chor und 5-stimmige Streicher. Dazwischen folgen drei Strophen des Sterbeliedes "Ich hab, Gott Lob, das mein vollbracht" von Georg Werner (Königsberg 1639), vertont als Arie für Sopran, Duett für Alt und Tenor und Bassarie, mit zwei eingeschobenen Ritornellen. Diese Form könnte man mit Martin Geck als "Concerto-Aria-Kantate" bezeichnen.
Mein Herz ist bereit Dieses als Concerto betitelte Stück stammt aus dem Besitz des Organisten Gottfried Lindemann (†1741), einem Enkelschüler Buxtehudes, der 1719 von Stettin nach Karlshamm zog und dort als Organist wirkte. Es ist das einzige Stück von Bruhns, in der er die Violine solistisch einsetzt und das uns eine Ahnung geben kann von seinem oben erwähnten virtuosen Geigenspiel. Doppelgriffe, polyphones Spiel, Brechungen, virtuose Figuren und hohe Lagen wurden im süddeutsch-österreichischen und im mitteldeutschen Raum bereits ab Mitte des 17. Jahrhunderts von Biber, Schmelzer und Johann Jakob Walter eingesetzt. Möglicherweise wurden diese Techniken auch in Norddeutschland u.a. von Bruhns' Grossonkel, Nathanael Schnittelbach (1633–1667), einem der "grössten Violinisten des 17. Jahrhunderts" (Gerber 1812), der ab 1655 Ratsmusiker in Lübeck war, benutzt. Sein Schüler Nicolaus Adam Strunck (1640–1700) begünstigte durch seine Reisen und Tätigkeiten in Wien, Rom, Hamburg, Dresden und Leipzig einen ost-westlichen, aber auch einen süd-nördlichen Austausch. In der einleitenden Sonatina bedient sich Bruhns allerdings noch eines ganz anderen formalen Stilelements: der französischen Ouvertüre, in der Anordnung Adagio – Presto – Adagio. Wir folgen gerne Martin Gecks wertvollem Hinweis, dass Bruhns diese Spielart während seinem Kopenhagener Aufenthalt bei den dortigen französischen Musikern um Gaspard Besson kennengelernt haben könnte. 5
O werter heil'ger Geist Diese "canzon spirituale" wurde für einen konkreten Anlass geschrieben, möglicherweise für die Einführung des ab 1691 in Husum wirkenden Archidiakonus Joachim Giese. 6 Vermutlich stammt auch der Text, eine freie Umdichtung des Pfingstchorals "Komm, heiliger Geist", aus lokaler Feder: In Frage kommt der pietistisch ausgerichtete Husumer Hauptpastor Simon Reckel. So hätten wir hier eine Gemeinschaftsproduktion des 25jährigen Bruhns und seines Pastors vorliegen – ein wunderbares Begrüssungsgeschenk für einen neuen Pfarr-Kollegen! Gefordert werden vier Gesangsstimmen, zwei Clarinen und eine fünfstimmige Streicherbesetzung. Das Stück beginnt mit einem festlichen Ritornell im Gigue-Rhythmus, darauf folgen vier Strophen für Solostimmen, begleitet bzw. dialogisiert von den Streichern. Zwischen jeder Strophe wird das Ritornell wiederholt. Besonders hingewiesen sei auf die Alt-Arie ("Wenn mein Gewissen zagt"), in der Bruhns die Choralmelodie des Pfingstliedes "Nun bitten wir den Heiligen Geist" in die Tremolo-Begleitung der Streicher hineinverwoben hat. Die volle Ensemblebesetzung erklingt erst in der Schlussstrophe "O werter heil'ger Geist", zunächst in homophonen Anrufungen des Heiligen Geistes, danach in lockererer, imitatorischer Verarbeitung. Die letzte Textzeile ist als tänzerischer Dreiertakt gesetzt, der an eine Ciacona erinnert. Nach 16 Takten, in denen Soloabschnitte jeweils vom Tutti beantwortet werden, können sich die Vokal- und Instrumentalstimmen nicht mehr halten und brechen – in der Hoffnung auf die Präsenz des Heiligen Geistes am Lebensende – in einen freudigen Jubel aus.
Es ist müssig, über verschollene Vokal- oder Orgelstücke Bruhns zu spekulieren, gleichwohl wären wir neugierig, z.B. Sonaten für Violine und Viola da Gamba oder andere Kammermusik aus seiner Hand zu finden. Die erhaltenen Stücke zeigen jedenfalls, mit was für einer feinfühligen Originalität Bruhns sich den Anforderungen einer Textvorlage genähert hat, welche kantablen Züge seine Melodieführungen bisweilen aufweisen und wie er es schafft, in jedem Stück durch klangliche, harmonische oder formale Besonderheiten eine emotionale Betroffenheit, Innerlichkeit und starke Sehnsucht zum Ausdruck zu bringen – Qualitäten, die nicht nur Johann Sebastian Bach beeindruckt haben. Jörg-Andreas Bötticher
1 Zu Bruhns' Biographie vgl. Mattheson 1740, Gerber 1812, Kölsch 1958, Geck 1968, MGG2 (K. Beckmann), Ghielmi 2007, Wikipedia und Grove online. 2 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 41978, S. 77f. 3 Erbe deutscher Musik, Bd. 2, 1937 und 1939. 4 Zitiert nach Harald Vogel, Vorwort zur Edition der Orgelwerke Vincent Lübecks, Edition Breitkopf 8824, 2010, S. 3. 5 Geck 1968, S. 58. 6 Kölsch 1958, S. 90. |
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Bruhns' kurzes Leben und der überraschende Tod geben auch heute noch Anlass zu manchen Spekulationen, so lässt z.B. Andreas Nohr in seinem Roman Mitternacht Vincent Lübeck erzählen: |
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