Abendmusiken in der Predigerkirche
2013
   
     
     

Ein Zittauer Orpheus der Gebrauchsmusik – Andreas Hammerschmidts Dialoge, Concerte, Motetten und Paduanen


Die Nachwelt hat es nicht immer gut gemeint mit dem gern einmal als Kleinmeister, Vielschreiber oder Schütz-Epigone abqualifizierten Andreas Hammerschmidt (1611/12– 1675) – seine Zeitgenossen gelangten jedoch zu einem viel positiveren Urteil über diesen produktiven und erfolgreichen Komponisten. Ablesbar ist dies nicht nur an der weiten Verbreitung seiner Werke in zahlreichen Inventaren und Sammlungen des 17. Jahrhunderts, sondern auch am bemerkenswerten Umstand, dass Hammerschmidt anders als die meisten der in diesen Abendmusiken vorgestellten Komponisten einen großen Teil seiner Schöpfungen im Druck veröffentlichen konnte. Daß diese Orientierung am musikalischen Markt seiner Zeit eine gewisse Fasslichkeit der kompositorischen Faktur nach sich zog, die sich von den harmonischen Experimenten eines Matthias Weckmann oder der sängerischen Eleganz eines Christoph Bernhard merklich unterscheidet, ist nur aus nachträglicher Perspektive ein Makel und hat vielmehr zur seinerzeitigen Popularität Hammerschmidts vieles beigetragen. Verstellt doch der Blick allein auf die exquisite Produktion im Umfeld der großen Hofkapellen den Blick für die hohe handwerkliche Qualität eines Komponierens, das sich bewusst an den Möglichkeiten städtischer Kantoreien und den Dimensionen der sonntäglichen liturgischen Praxis samt ihrem Bedarf an sowohl andächtigen wie auch gut ausführbaren Stücken überschaubarer Länge orientierte. So war Hammerschmidts „Chor-Music“ von 1652/53 ausdrücklich „auff die gebräuchliche Art der gemeinen Stadt Sänger“ ausgerichtet, während der Weißenfelser Hofmusiker und Romanschriftsteller Johann Beer seinem älteren Kollegen anerkennend attestierte, dass dieser „die music fast in allen Dorfkirchen usque in hunc diem erhalten“ habe. Daß Hammerschmidt diesen bewusst begrenzten künstlerischen Bezugsrahmen virtuos und elegant auszufüllen verstand, wird durch zahlreiche Auftragswerke belegt, die er für Kirchen und Kapellen von Kopenhagen bis Breslau fertigte. Hammerschmidts immenses Ansehen drückt sich auch in der Zusammenarbeit mit dem norddeutschen Dichter Johann Rist aus, der den Zittauer Meister mit der Vertonung seiner „Neuen Himmlischen Lieder“ (Lüneburg 1651) und „Neuen Catechismus Andachten“ (Lüneburg 1656) beauftragte und ihn in diesem Zusammenhang als „weltberühmten Herrn“ anredete.

Geboren 1611 oder 1612 im nordböhmischen Brüx – heute unter dem Namen Most eine von Krieg, Industrialisierung und sozialistischen Planfuror völlig verwüstete Stadtlandschaft –, gelangte Hammerschmidt bereits früh in angesehene musikalische Positionen. 1)  Neben einer nicht näher bekannten, offenbar jedoch profunden Ausbildung scheint Hammerschmidt über ein erhebliches Selbstbewußtsein und eine durchsetzungsfähige Natur verfügt zu haben, die ihn Karrierechancen stets entschlossen ergreifen ließ. Von 1633 bis 1634 diente er zunächst als Organist des sächsischen Grafen Bünau auf dessen idyllischem Schloss Weesenstein bei Pirna, bevor er 1634/35 nach langem Rechtsstreit mit einem unterlegenen Bewerber den Organistenposten an St. Petri in der reichen Bergstadt Freiberg erhielt. Im April 1639 wechselte er kurzfristig auf die frei gewordene Stelle des Organisten an der  Johanniskirche in Zittau. Damit gelangte Hammerschmidt in eine vom Dreißigjährigen Krieg weniger betroffene Stadt und Region, die sich überdies durch eine sehr lebendige Schultradition 2) und Ratsmusik auszeichnete. Dies bot dem Organisten trotz seines offenbar hitzigen Temperamentes 3) die Gelegenheit zur erfolgreichen Einwurzelung in das örtliche Patriziat, die sich in einem gewissen materiellen Wohlstand samt Hauskauf und Zittauer Bürgerrecht widerspiegelte. Auf seinem  1675 errichteten Grabstein fanden sich Verse, die man sonst eher in Bezug auf Hammerschmidts Vorbild Heinrich Schütz erwarten würde:

„Der Deutschen Ehre, Ruhm und Ziehr 
Amphion ruht und schläft allhier.

Ach! Orpheus wird nicht mehr gehört 
Den Zittau vorhin hat geehrt.“

Dies mag aus lokalpatriotischem Stolz etwas hoch gegriffen erscheinen, doch wurden Hammerschmidts Arbeiten noch vielerorts bis weit ins 18. Jahrhundert hinein aufgeführt. 4)  Daß er sich bis ins Alter hinein kompositorisch weiterentwickelte, wird durch seine letzte veröffentlichte Sammlung, die sechsstimmigen „Fest- und Zeitandachten für das Chor“ von 1671 eindrucksvoll belegt. Diesem Opus, aus dem im Rahmen der Abendmusiken bereits die Motette „Das Wort ward Fleisch“ erklang, entstammt mit „Machet die Tore weit“ auch jenes Werk Hammerschmidts, das es in die großen Chorbücher des frühen 20. Jahrhunderts schaffte und das daher bis heute zu den bekannteren Adventsmotetten „alter Meister“ zählt.

II.
Im Vorwort seiner „Chor-Music“ hatte Hammerschmidt darauf verwiesen, sich „unterschiedene(r) genera der Sätzungen in der Music“ befleißigt zu haben. Dieser auf formale Vielgestaltigkeit und kreative Handhabung von Gattungsmustern gerichtete Anspruch wird nicht nur durch das von geistlichen Concerten für Solostimme und Continuo über Madrigale und Dialoge mit Obligatinstrumenten bis hin zu kontrapunktischen Motetten reichende Oeuvre des Meisters eindrucksvoll bestätigt, sondern findet auch im Stilbefund der in diesem Programm zusammengestellten Werke seinen Ausdruck. Das in der älteren Literatur wiederholt anzutreffende Unverständnis gegenüber der uneinheitlichen Terminologie der Hammerschmidtschen Werke erweist sich als hermeneutischer Zirkel einer an späteren Kategorisierungen orientierten Editionswissenschaft, das der lebendigen und unkonventionellen Aneignung von Vorbildgattungen im Schaffen eines deutschen Komponisten des mittleren 17. Jahrhunderts nicht gerecht werden kann.

In diesem Sinne steht das mit zwei hohen Stimmen und Generalbaß besetzte Concert „Eile mich Gott, zu erretten“  gewissermaßen an einem Ende der stilistischen Bandbreite. Naturgemäß häufig mit jenem gleichnamigen Werk verglichen, mit dem Heinrich Schütz seine „Kleinen geistlichen Concerte“ von 1636 eröffnete, vermag es auch ohne dessen programmatischen Zusatz „in stylo oratorio“ durchaus zu überzeugen. An die Stelle von Schütz’ eindringlicher Deklamation auf teils festgehaltenen Rezitationstönen tritt bei Hammerschmidt die kontrapunktisch dichte Überlagerung zweier Solisten, die nach Art der „Opella nova I“ (1618) Johann Hermann Scheins vom kraftvollen Mit- und Gegeneinander der beiden Singstimmen lebt. Schütz mag im Detail hier und da zwingendere Figuren zur Abbildung der Affekte und Aussagen gefunden haben, doch wird man auch Hammerschmidts Deutungen stellenweise einige Plastizität zuerkennen können („Ich aber bin elend und arm“, „denn du bist mein Helfer und Erretter“).

Während Schütz seine Vertonung des Augustinischen Andachtstextes „O süsser, o freundlicher, o gütiger Herr Jesu Christe“ ebenfalls als solistisches Concert für Tenor angelegt hatte (SWV 285), weist Hammerschmidts Version für vier Stimmen und Generalbaß eher in den Bereich des geistlichen Madrigals. Auch für diese Form könnte Schein mit seinem „Israelsbrünnlein“ von 1623 als prägendes Vorbild gewirkt haben; zu einer entsprechenden „Madrigal Manier“ hat sich Hammerschmidt im Titel seiner Sammlung von 1652/53 direkt bekannt. Die teils homophon und gleichrhythmisch, teils imitativ gehaltene Satztechnik erzeugt mit ihren vielen kurzen Abschnitten ein abwechslungsreiches Bild, das sich jeder Textphrase optimal anschmiegt und eine sprechende Deklamation erlaubt. Von großer Wirkung sind in diesem Stil die doppelt textierten Passagen („mein Heiland – wie erfreuet sich mein Herz“; „mein Erlöser – wie herrlich sind deine Wohltaten“).

Diese Technik des intensiven textlich-musikalischen Interagierens ist vielleicht auch ein Schlüssel, um Hammerschmidts Dialoge zu verstehen. Obwohl es in seinem Schaffen auch Kompositionen mit wörtlicher Wechselrede gibt, wäre ihre durchgängige Interpretation als dramatisch-szenische Entwürfe mit realistischer Personenführung nach Art des stile rappresentativo irreführend. Vielmehr sind gerade die fünf Dialoge dieses Programms eher als inneres Herzensgespräch oder gar als Zwiesprache zwischen Gott/Erlöser und Seele/Mensch aufzufassen. Wenn in diesem Sinne durchlaufende Psalmtexte auf mehrere Stimmen verteilt werden, erlaubt dies eine Akzentuierung der enthaltenen affektmäßigen Gegensätze und gewissermaßen eine Rückversetzung der zur dogmatischen Textschicht geronnenen Erfahrungswelt der biblischen Kernsprüche in eine lebensnahe Auseinandersetzung zwischen Furcht und Hoffnung oder Flehen und Zusage. So ist in „Ach Gott, warum hast Du mein vergessen“ der Vortrag der eigentlichen Klage dem Tenor übertragen, während die drei übrigen Stimmen mit Worten des 42. Psalms dem verfolgten Protagonisten tröstend zur Seite treten, bevor sich im abschließenden Lobpreis „Wir haben einen Gott, der da hilft“ sämtliche Stimmen sinnfällig vereinigen. Diese Aufspaltung der Textbestandteile auf unterschiedliche Ensemblegruppen und Stimmlagen gibt dem Komponisten Gelegenheit zur Ausbildung wiederkehrender Motive, die etwa im Dialog „Herr, wer wird wohnen in deiner Hütten“ als Ritornell genutzt werden und damit fast litaneiartige Züge annehmen („wer das tut, der wird wohl bleiben“). Freie Einschübe finden sich wiederum in den Dialogen „Nehmet hin und esset“ sowie „O Jesu, du allersüssester Heiland“. Handelt es sich bei ersterem um eine eigentlich recht kühne Concert-Vertonung der Abendmahlseinsetzung, die durch den Psalmvers „Lobe den Herrn, meine Seele“ als gemeindlicher Dank für die in Brot und Wein erwiesene Wohltat beantwortet wird, so wird in „O Jesu“ dem Andachtstext eine sich beständig steigernde Evokation des Namens Jesu  gegenübergestellt. Hammerschmidts Dialoge erweisen sich somit als klingende Exempel einer verfeinerten Gebets- und Predigttechnik, die seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts die tradierte Evangelienverkündigung mehr und mehr um eine verinnerlichte Gewissenserforschung und regelrechte Jesusminne mit latent überkonfessionellen Zügen ergänzte. Die eher leichte und durchsichtige Faktur der Kompositionen lässt diese im eigentlichen Sinne spirituelle Dimension besonders gut hörbar werden – die von kritischen Musikfachleuten wie Martin Heinrich Fuhrmann („Musicalischer Trichter“, 1706) als „Hammerschmiedischer Fuß“ verunglimpfte Schlichtheit der Dimensionen und Ansprüche wird insofern durch die Intention der Stücke gerechtfertigt und sollte weniger als kompositorisches Defizit und auch nicht als grundsätzlicher Mangel an motivischer Inventionskraft aufgefasst werden. Eine gewisse Austauschbarkeit der Figuren und Satzanlagen mag nicht nur dem immensen kommerziellen Erfolg der Hammerschmidtschen Drucke geschuldet sein. Sie trifft auch auf den übergrossen Teil der kompositorischen Produktion des Barock zu und widerlegt somit den anekdotisch Johann Rosenmüller zugeschriebenen Vorwurf, Hammerschmidt sei ein „Clausuln-Dieb“ gewesen, der mithin die Entwürfe anderer Meister nicht nur benutzt, sondern auch benötigt habe. 5)

Daß Hammerschmidt auch die vielstimmig-großformatige Setzkunst mehr als nur solide beherrschte, zeigen die beiden Motetten „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ und „Habe deine Lust an dem Herren“ aus den Musikalischen Andachten II von 1641. Beide verbinden die kanonische und fugenmäßige Kontrapunktik der Tradition so glücklich mit wechselchörigen Passagen und der geschmeidigen Dichte des Madrigals, dass sie den Motetten aus Heinrich Schütz „Geistlicher Chor-Musik“ von 1648 durchaus an die Seite gestellt werden können, mit denen sie zudem den im Kern verzichtbaren ad libitum-Charakter der Generalbaßstimme teilen. Die in „Habe deine Lust“ vorgenommene Einzeichnung von kleinbesetzten „Favorit“-Abschnitten in eine als „Capella“ bezeichnete Tutti-Besetzung verweist auf die gewünschte klangliche Gravität und Differenziertheit dieser Stücke sowie auf die reichhaltigen Möglichkeiten, mit denen Hammerschmidt dank seiner erfolgreichen Laufbahn als städtischer Organist und Musikdirektor rechnete.

III.
Zwar stehen „Dialogi“, „Musikalische Gespräche über die Evangelien“ und „Musikalische Andachten“, mithin geistliche Stücke, im Zentrum der Hammerschmidtschen Produktion. Doch hat er neben weltlichen Gelegenheitswerken und Drucken  – darunter dem berühmten „Kusslied“ nach einem Text des Dichters Paul Fleming – mit der Sammlung „Erster Fleiß allerhand neuer Paduanen, Galliarden, Balleten, Mascharaden, Francoischen Arien, Courenten und Sarabanden“ von 1639 sowie ihren beiden Folgeteilen von 1639 und 1650 auch drei Sammlungen mit Instrumentalmusik vorgelegt. Diese schließen grundsätzlich an die vor allem von Johann Hermann Schein in seinem „Banchetto musicale“ von 1615 entwickelte deutsche Ensemblesuite mit ihrem gewichtigen Eingangssatz (Pavane) sowie den leichteren Folgetänzen an. Zwar erreichen Hammerschmidts Tanzsuiten trotz ihrem Zug zur figuralen Durcharbeitung aller Stimmen noch nicht die von Johann Rosenmüllers „Studenten-Music“ (1654) verkörperte Geschmeidigkeit der Linienführung und Klangfortschreitung. Vor allem in den stets dreiteiligen Paduanen Hammerschmidts ist jedoch die Transformation des gravitätischen Schreittanzes in ein von der Tonart und ihrem Affektcharakter geprägtes repräsentatives Eröffnungsstück soweit vorangeschritten, daß sie sich mit ihrem klangvollen fünfstimmigen Satz auch als Sinfonien für Vokalstücke eignen – eine schon von Theoretikern der Zeit wie Michael Prätorius empfohlene Praxis. In dieser Hinsicht führt etwa die lichte Paduan in C mit ihren angedeuteten Chorbildungen perfekt in das von der Entgegensetzung eines hohen Stimmpares und einer Basspartie lebende „Herr, wer wird wohnen in deinen Hütten“, während die gedrängter geführte g-Moll-Pavane den erregten Ausbruch des Concertes „Eile mich, Gott, zu erretten“ vorbereitet. Die als Nummer 4 der Sammlung von 1639 gedruckte Paduan in F setzt die warm leuchtende Tonalität in brilliante Gesten und Läufe um, die die innerliche Verzückung des Andachtstextes „O süsser, o freundlicher, o gütiger Herr Jesu Christe“ bis hin zur ekstatischen Figur des „Schauens“ vorwegzunehmen scheinen. Der vollstimmige und im Umfang weit ausgreifende Ensemblesatz „Habe deine Lust an dem Herren“ findet hingegen in der entspannten Sicherheit der B-Dur Pavane seine Entsprechung.

Anselm Hartinger

 

1) Zur Biographie vgl. MGG 2, Bd. 8, Artikel „Hammerschmidt“ (D. Rothaug, 2002).

2) Vgl. dazu anhand der Zusammenarbeit Hammerschmidts mit dem Zittauer Rektor Christian Keimann Irmgard Scheitler, Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Tutzing 2013, v.a. S. 389–398.

3) Aus Hammerschmidts Zittauer Jahren sind mehrere tätliche Auseinandersetzungen – etwa mit einem Weinschenk sowie mit seinem ungeliebten Schwiegersohn – bekannt geworden.

4) Der Autor dankt Michael Maul (Leipzig) für entsprechende Hinweise auf die lokale Praxis Mitteldeutschlands.

5) Parodien nach fremden Vorbildern hat auch der gewiß ungleich eloquentere Komponist Johann Rosenmüller mehrfach vorgelegt. Vgl. dazu: Peter Wollny, Schöne italienische Musicalische Kunststücke uf Teutzschem Boden – Über das Komponieren nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 32 (2007), S. 31–66.