Abendmusiken in der Predigerkirche
11. August 2013
   
     
     

1. Thomasschule und Thomanerchor begingen 2012 die 800. Wiederkehr ihrer Gründung. Damit trat eine kirchenmusikalische Institution von erstaunlicher Traditionstiefe und (nicht immer unproblematischer) Beständigkeit erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die überragende Bedeutung, die Johann Sebastian Bachs 27jährigem Kantorat in der diesbezüglichen Wahrnehmung der Nachwelt zugesprochen wurde, entspricht mit  dessen selbstverständlicher Apostrophierung als einzigartige Glanzzeit jedoch weder dem auf strukturelle Kontinuität und Selbstorganisation setzenden Selbstverständnis des Chores noch der immensen Leistung vieler Kantoren „nach“ und vor allem „vor Bach“. Für die Geschichte und Entwicklung des Thomanerchores waren gelehrte Komponisten und geduldige Reformer wie Sethus Calvisius, Sebastian Knüpfer, Johann Adam Hiller oder auch Karls Straube womöglich wirkmächtiger als das ambitiöse, jedoch auch von Enttäuschungen und zunehmender „innerer Emigration“ geprägte Kantorat Bachs. Bereits im 19. Jahrhundert fungierte Bachs Werk jedoch auch innerhalb des Thomasrepertoires als stilistische Wasserscheide, da es wie die Musik Händels als Anfangspunkt der noch aufführbaren Musik des erweiterten klassischen Erbes galt, während das Schaffen des 17. Jahrhunderts wie schon die kontrapunktischen „Graubärte“ der Renaissance als längst verabschiedet und unzeitgemäß galt.

Zu den herausragenden, in dieser Sichtweise jedoch lange unterschätzten Kantor-Komponisten der älteren Thomasschultradition zählt Johann Hermann Schein. Der 1586 im erzgebirgischen Grünhain in eine Pastorenfamilie hineingeborene Schein 1)  trat 1599 als Diskantist in die Dresdener Hofkapelle ein, bevor er 1603 die Fürstenschule in Schulpforte bei Naumburg bezog – dank des Wirkens der Schulkantoren Sethus Calvisius, Erhard Bodenschatz und Martin Roth seinerzeit ein Zentrum der evangelischen Kirchenmusikpflege und Ausgangsort jener berühmten Motettensammlungen, die als kleines (1606) und großes „Florilegium portense“ (1603 sowie 1618/21) bis in die Zeit Bachs hinein anhaltende Berühmtheit finden sollten. Ein kurfürstliches Stipendium erlaubte Schein dann ab 1608 ein Studium der Rechte sowie der Freien Künste an der Landesuniversität Leipzig; nach einem Intermezzo als Hauslehrer und Musikdirektor des Weißenfelser Schloßhauptmanns Gottfried von Wolffersdorf wechselte er im Mai 1615 als Hofkapellmeister an die ernestinische Nebenlinie des Hauses Wettin nach Weimar. Doch erwies sich die wohlhabende Messemetropole Leipzig dann doch als der attraktivere Lebensmittelpunkt – nach dem Tod des Thomaskantors Calvisius im November des gleichen Jahres bewarb sich Schein um dessen Nachfolge, die er nach absolvierter Kantoratsprobe im September 1616 antrat. Dank seiner immensen Produktivität und umfassenden Bildung sowie aufgrund seiner exzellenten Beziehungen zum gehobenen Leipziger Bürgertum und zur Ratsoligarchie war ihm in Leipzig trotz anhaltender schulinterner Konflikte zunächst eine glanzvolle Laufbahn beschieden, die dann allerdings durch den aufziehenden dreißigjährigen Krieg sowie den in kurfürstlicher Zwangsverwaltung mündenden finanziellen Zusammenbruch Leipzigs im Jahr 1623 nachhaltig beeinträchtigt wurde 2)   und mit Scheins frühem Tod 1630 unerwartet abbrach. Daß zu Scheins Leipziger Schülern mit Paul Fleming einer der sprachmächtigsten deutschen Barockdichter zählte, sei immerhin am Rande erwähnt, zumal Fleming Schein auch in mehreren Trauergedichten ein ehrendes Angedenken bewahrte.

Doch hat Schein – ähnlich wie sein älterer Wolfenbütteler Kollege Michael Prätorius – in kaum zwei Jahrzehnten Wirkungszeit ein äußerst vielgestaltiges und reichhaltiges musikalisches Oeuvre hervorgebracht, das von der eleganten bis derben Liebes- und Tafelmusik der „Waldliederlein“, „Diletti pastorali“ sowie des „Venus-Kräntzleins“ und „Studenten-Schmauses“ über die großen Motettensammlungen „Cymbalum Sionium“ (1615) und „Fontana d‘Israel“ (1623) bis zur gottesdienstlichen Gebrauchsmusik des Leipziger Cantionals von 1627 reichte und neben Instrumentalmusik auch großbesetzte geistliche und weltliche Concerte einschloß.

2. Scheins „Israelsbrünnlein“ von 1623 gehört zu den epochalen Musikdrucken des deutschen Sprachraums im 17. Jahrhundert. Es teilt mit der 1648 gedruckten „Chor-Musik“ von Heinrich Schütz nicht nur die Dedikation an den Rat der Stadt Leipzig, sondern auch den immensen kompositorischen (Vorbild-)Anspruch. Nicht zuletzt gehört das Titelkupfer der Sammlung zu den noch heute meistreproduzierten Musikdarstellungen der Zeit. Mit dieser Veröffentlichung von 26 Spruchmotetten („Krafft-Sprüchlin“) für 5 und 6 Stimmen trug Schein wesentlich dazu bei, die deutsche geistliche Musik auf das geschmeidige Niveau der italienischen Produktion nach 1600 zu heben. Der im Titel des Druckes mitgeteilte Zusatz „auf anmutige Italian Madrigalische Manier“ war insofern kein bloß verkaufsfördernder Euphemismus, sondern entsprach einer präzisen Beschreibung der stilistischen Ausrichtung der Sammlung. Zeigt sich Schein darin doch trotz der beibehaltenen motettischen Reihung der einzelnen Textabschnitte zutiefst der abwechslungsreichen Satzdichte und abbildenden Kompositionsweise des Madrigals verpflichtet, die er um eine zuweilen vertrackte rhythmische Komplexität sowie einen sorgfältig ausgearbeiteten Kontrapunkt erweiterte. Die beigegebene Generalbaßstimme weist zwar noch weitgehend einen der jeweils tiefsten Stimme folgenden Basso seguente-Charakter auf, erweist sich jedoch als für den klanglichen Reichtum und die rhythmische Präzision der Stücke kaum noch verzichtbare Dimension. Stilistische Eigenheiten wie die schon in Schütz’ Italienischen Madrigalen von 1611 sowie in vielen Werken der Gabrieli-Schule nachweisbare Doppelmotivik als simultane Behandlung kontrastierender Textglieder und Figuren – etwa die Kombination absteigender Satzmodelle mit emphatisch in breiten Werten deklamierten Devisen – deuten auf ein gründliches Studium sowie eine kreative Anwendung der italienischen Vorbilder. Scheins geistliche Madrigale verlangen deshalb eine sowohl an der neuen italienischen Praxis wie an der deutschen Gravität geschulte Aufführungsweise. Kaum eines der Stücke kommt darüber hinaus ohne wirkungsvollen Abschnitt im Tripeltakt aus, der im Sinne eines rhetorischen Noema abschließende Bekräftigungen oder zentrale Aussagen hervorhebt und die Stücke zugleich musikalisch abrundet. Daß Schein trotz der unvermeidlichen topologischen Austauschbarkeit einer derart figurenbezogenen Gattung einen unverwechselbaren Personalstil kreierte, wird durch keinen anderen als Heinrich Schütz bestätigt, der in seine über Johann Herrmann Scheins Leichentext geschriebenen Motette „Das ist je gewißlich wahr und ein teuer werthes Wort“ eine Schlußwendung einkomponierte, die perfekt die madrigalische Art seines verstorbenen Freundes imitierte, bei der Neubearbeitung des Stückes für die Geistliche Chormusik 1648 dann jedoch auf Schütz’abgeklärten Reifestil hin geglättet wurde.

„Was betrübst du dich, meine Seele“ und „Die mit Tränen säen“ können in dieser Hinsicht als exemplarische, wiewohl sehr unterschiedliche Stücke gelten. Letzteres beginnt in der imitativen Einsatzfolge einer Motette, geht jedoch mit einem durchchromatisierten Aufstieg an die Grenzen der Gattung und bildet dabei in echt madrigalischer Manier nicht nur den Traueraffekt ab, sondern zeichnet auch die einander verwandten Gesten des „Säens“ und „Weinens“ nach. Auf eine breit ausgeführte Kadenz folgt jedoch keine weitere Imitationskette, sondern ein aufgelockerter Satz, der seine regelhafte Einsatzfolge hinter den konzertanten Chorteilungen eher verbirgt und damit perfekt die Erleichterung über die „freudige Ernte“ nach der leidvollen Wartezeit erlebbar macht. Nur die nicht ganz schlußfähige Kadenz auf C läßt vermuten, daß sich diese Entwicklung vom dunklen zum hellen Affekt nochmals wiederholen wird. Zunächst zeichnet Schein in einer ausdrucksstarken Miniatur erneut die in Erstarrung und Tränen mündende Bewegung („ Sie gehen hin – [Pause] – und weinen“), bevor sich die Spannung in durchbrochenem lichtem Satz („und tragen edlen Samen“) sowie akkordischem Jubel löst („und kommen mit Freuden“). Daß Schein sich mit diesem Ausklang nicht benügt, sondern stattdessen noch eine madrigalische Passage von doppelmotivischer Dichte anfügt, zeigt die Hand des souveränen Meisters und Ausdrucksmusikers.

In völlig anderem Duktus beginnt „Was betrübst du dich, meine Seele“. An die Stelle einer sukzessiv imitatorischen Eröffnung tritt hier eine syllabische Deklamation, die wie ein inneres Damaskuserlebnis im fünfstimmigen Satz auf den Beter und die Zuhörer eindringt, bevor erneut eine meisterliche Passage mit kleinteiligen Stimmpaaren und langausgehaltenen Akkordklammern die ganze Unruhe der Seele zum Ausdruck bringt. Ein überraschender Zwischenschluß auf G leitet zu einer hymnischen Evokation („Harre auf Gott“), die in eine zwischen Eifer und Vertrauen changierende Musik kreisender Achtelketten übergeht. Nach der Wiederholung dieses Mittelabschnittes könnte das Stück beendet sein – doch entscheidet sich Schein für einen verdichteten zweiten Textdurchlauf, der nochmals die peinvolle Betrübnis in Erinnerung ruft und dann die Unterstützung des Höchsten regelrecht herbeizureden scheint. Nur wird das Gebet jetzt vom Kopf auf die Füße gestellt: Lag im ersten Durchgang der Akzent auf „meines Angesichtes Hülfe“, so wird nun – getreu Luthers Mahnung, man solle nicht um irgendetwas für sich selbst, sondern allein um Gott bitten – dessen heilbringender Name wuchtig herausgestellt.

3. Allzu oft allein dem gehobenen Amateurmusizieren und der Musikschulpraxis anvertraut wurden in der Vergangenheit die 20 Ensemblesuiten des „Banchetto musicale“ von 1617. Über die titelgebende Funktion einer Tafelmusik hinaus ist vor allem den eröffnenden Pavanen dieser bedeutendsten deutschen Instrumentalsammlung vor Farina, Hammerschmidt und Rosenmüller ein erheblicher kompositorischer Anspruch und eine „sonderbahre gratia“ einkomponiert, der sie trotz ihrer vermeintlich leichten Ausführbarkeit zu erstrangigem Spielrepertoire von gattungsprägendem Anspruch werden ließ – „lieblich und lustig zugebrauchen“, wie es auf dem Titelblatt heißt. Wie Schein etwa in der Pavane 10 die an sich kurzen wiederholten Phrasen des Tanztyps entweder zu langen Melodiebögen hin verlängert oder aber geschickt aufspaltet und sie dabei affektsteigernd nach oben hin sequenziert, ist von großer Meisterschaft. Die Pavane in C (Nr. 18) verwandelt regulär angesteuerte Akkordfolgen und einfache Bewegungsformeln in pathetisch inszenierte Klangereignisse, wobei ihr dritter Teil vom permanenten Wechsel unterschiedlicher Me-tren Gebrauch macht. Die Pavane in e (7) greift angesichts ihrer gespannten Tonalität nicht zufällig auf einen chromatischen Aufstieg zurück, der mit dem Beginn der Motette „Die mit Tränen säen“ verwandt wirkt. Ihr zweiter Teil arbeitet mit kleinteiligen Echoeffekten, bevor der Schlussabschnitt enggeführte Kanonbildungen einführt, die dann diminuiert und mit der Echo-Musik des Mittelteils kombiniert werden. Sie offenbart damit auf engstem Raum die Vorzüge der gesamten Sammlung – allzeit wiedererkennbare und in Ablauf und Rhythmus bewahrte Tanzcharaktere bei nimmermüder Erfindungsgabe im satztechnischen Detail.

Eine ausgedehntere Struktur weist die Canzon a 5 ex A auf, die dem „Cymbalum Sionium“, jener noch in Weimar komponierten, jedoch bereits in Leipzig gedruckten Motetten-Sammlung von 1615 beigegeben ist. Sie trägt den etwas rätselhaften Beinamen „Corollarium“, der gängigen Übersetzungen nach sowohl auf den schmückenden Ergänzungscharakter des Stückes als auch auf die Ausarbeitung des darin niedergelegten Materials deuten könnte. Entsprechend der Gattungstradition der Canzone handelt es sich um eine Folge kontrastierender und teils imitativer, teils homophoner Abschnitte, die lose aus einem Soggetto entwickelt sind, das dem in sich beschleunigten „Canzonen-Rhythmus“ folgt. In Scheins weitläufiger Ausarbeitung finden sich allerlei kontrapunktische Kunstgriffe wie etwa die Vergrößerung, Verkleinerung und Umkehrung des Themas sowie mannigfaltige Rhythmisierungen und figurative Abwandlungen.

4. Kaum eine andere Sammlung Scheins ist so stark von der modernen italienischen Stilausrichtung geprägt wie die „Opella nova“ II von 1626. Man könnte fast sagen, daß es gerade die angesichts fehlender persönlicher Italienerfahrung nötige eigene Imaginationskraft war, die Schein dabei (wie ein Jahrhundert später Bach) zu einem deutsch-italienischen Mischstil von erstaunlicher Überzeugungskraft gelangen ließ, der die vielleicht kriegsbedingte Beschränkung auf eine kleinere Besetzung durch Reichtum der Form und Makellosigkeit der Deklamation mehr als kompensierte.

Ein solches Meisterwerk im Miniaturformat ist „Herr, wenn ich nur dich habe“ – ein sogenanntes „Voce“-Stück, das ohne jede imitative Einleitung im dreistimmigen Satz, jedoch mit nur einer textierten Partie beginnt und dann als virtuoses Duett von Violine und Tenor über einem Baß ausgearbeitet ist, der trotz seiner überwiegenden Stützfunktion immer wieder auch bewegungsmäßige Impulse liefert.

Nur auf den ersten Blick scheint das größer besetzte „Vater unser“ den Rahmen der Sammlung zu sprengen. Doch handelt es sich im Kern um eine ähnliche Anlage – wird doch der eigentliche Textvortrag von den beiden Voci Alto und Tenore als konzertantes Duett mit Generalbaß vorangetrieben. Scheins geniale Idee bestand nun darin, die trotz des Wechsels der Tonstufen an sich schematische Hinzuziehung von Ripienstimmen nicht nur als strukturierendes Mittel, sondern zugleich als theologischen Sinnträger einzusetzen. Die eigentlich am Schluß des Gebetes stehende Doxologie „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“ wird so als Refrain im vollstimmigen Capellsatz benutzt und jeder einzelnen Bitte des „Vaterunser“ als Bekräftigung angehängt, bevor das Stück mit einem motettischen Abschluß über diese Doxologie zu Ende geht. Daß die eröffende Sinfonia mit ihren weitgeschwungenen Stimmbögen und kanonischen Bildungen äußerst kunstvoll gearbeitet ist, deutet – ebenso wie der Einsatz des ersten Vokalblockes auf die ultima nota der Instrumentaleinleitung und die vielfältigen motivische Verwandtschaft von Singtext und Sinfonia – auf eine integrale Werkkonzeption.

Auch die einzeln überlieferte Canzonetta „Lobet den Herrn, alle Heiden“ ist ein derartiges Voce-Stück mit nur einer textierten Stimme, die von einer aus dem Generalbaß herausgezogenen Capella fidicinia begleitet wird. Der als solcher hervorgehobene „Canto colorato“ fungiert dabei als auskomponierte Verzierungslehre nach Art der Diminutus-Stimmen mancher Concert-Drucke von Michael Prätorius. Schein hat derartige Techniken der variativen Abwechslung von Vortragsweisen in  etlichen seiner Werke (etwa „Christ, unser Herr zum Jordan kam“ für 2 Diskante und Instrumentalensemble) mit Gewinn benutzt und damit – wie sehr viel später auch Bach in seinen Choralkantaten – das Kunststück vollbracht, sowohl die Gemeindechristen mit offenkundigen Liedzitaten als auch die an neumodischen Manieren interessierten Kenner zufriedenzustellen.

5. Ähnlich wie bei Schütz lag Scheins besonderes Interesse zweifellos auf den großbesetzten und nur bedingt für den Druck bestimmten Festmusiken. Die beiden Alleluja-Psalmen unseres Programms sind dabei – auf den ersten Blick überraschend – nicht für große Stadtakte und Festgottesdienste bestimmt, sondern Hochzeitsstücke. Doch wurde bei diesen Gelegenheiten jenes gute Geld verdient, das vom Fixum her limitierte Stellen wie das Thomaskantorat für ambitionierte Musiker von Schein bis Bach attraktiv machte. 

Äußerlich eine klassische doppelchörige Motette ist „Alleluja. Wohl dem, der den Herren fürchtet“ mit zwei Chören und doppeltem Continuo. Die musikalisch konsequente und teils auf Kosten der Textvollständigkeit durchgesetzte Echostruktur der Musik (in den beiden Chören als „Risonanza d‘ Echo“ und „Risposta“ bezeichnet) präsentiert Schein jedoch als echten musikalischen Neuerer und Klangarchitekten nach Art Monteverdis und seiner Schule. Ihr Besteller Johann Weber dürfte in der Tat „Reichtum die Fülle“ gehabt haben, wenn er sich Scheins opulente Vertonung zu seiner Hochzeit am 25. November 1618 leisten konnte.

„Lobet den Herrn in seinem Heiligtum“ gibt sich in seiner fröhlichen Klangmalerei als typischen „Musikerpsalm“, dessen alttestamentlicher „Orchesterführer“ von Schein mit entsprechenden Instrumentenwechseln in den verdoppelnden Capella-Stimmen konzipiert wurde. Das Stück entspricht mitsamt seinem massiven Alleluja-Ritornello weitgehend der Machart der „Psalmen Davids“ von Schütz. Es lebt von einer farbenreichen und detailfreudigen Klangregie, ohne je seinen durchlaufenden Schwung zu verlieren. Die historischen Wurzeln des doppelchörigen Concertatstils in der liturgischen Psalmodie bleibt in derartigen Stücken stets gut hörbar. Dabei erweist sich die wechselchörige Struktur mit den dominierenden Diskantstimmen zugleich als reichhaltige Ausarbeitung eines effektvoll dialogisierenden Satzkonzeptes, wie es auch die Choralduette der Opella nova I von 1618 in Miniaturform verkörpern.

„Zion spricht“ ist hingegen ein großes zweichöriges Konzert mit Favoriti, Capellen und Ritornellen. Ähnlich wie in seiner Vertonung dieses Psalms im „Israels- brünnlein“ hat Schein mit der lapidaren Formel „Zion spricht“ einen rhetorischen Doppelpunkt gesetzt, der die eigentliche Deklamation (mit anrührend abreissenden Figuren im schmerzlichen Rahmenintervall es-h auf „ver-las-sen“) perfekt einleitet und im Wechsel der solistischen Stimmlagen und Capell-Rufe das Gefühl von Verlassenheit plastisch verallgemeinert. Die im Zentrum stehende Klage „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen“ ist dem Basso solo nur mit Generalbaßbegleitung übertragen, bevor ein fein ausgearbeitetes Interludium der Instrumente die affektmäßige Eindringlichkeit erhöht. Wie neuartig dieser eigenständige und zunehmend idiomatische Einsatz von Instrumenten im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts noch war, gerät aufgrund der schieren Menge späterer Concerte mit routiniert eingesetzten obligaten Instrumentalstimmen leicht in Vergessenheit. Die Übertragung dieser Voci an Violine, Traversa (!), Tromboni und Fagott verstärkt an dieser Stelle die Intimität der Bitte, bevor die Bekräftigung „So will ich doch dein nimmermehr vergessen“ wieder vom Glanz der Streicher eingehüllt wird. Der wuchtige und chromatisch aufsteigende Ruf „Denn siehe“ transformiert dann die Szenerie – der Höchste gibt sich in seiner Majestät zu erkennen, bevor ein konzentriert imitativer Schluß die arbeitsame Handlung des „in die Hände Zeichnens“ und dazu den Akt der kollektiven Nachfolge fast körperlich nachvollziehbar macht. Die Entstehung des Stückes zur Ratswahl des Kriegsjahres 1629 läßt durchaus den Vergleich zu Schütz‘ großem Psalmkonzert „Herr, der du bist vormals genädig gewest deinem Lande“ (SWV 461) zu, das wahrscheinlich ebenfalls in Leipzig zum evangelischen Fürsten-Konvent 1631 erklang. An musikalisch eindringlichen Friedensbitten und Notbeschreibungen bestand also in diesem von Paul Fleming in seiner Neujahrsode 1633 als „zweymahl wüstes Land“ betrauerten Sachsen kein Mangel. Die trotz aller Kriegsläufte gelungene Erhaltung des Thomanerchores und dessen erstaunlicher Wiederaufstieg nach 1648 gehört dabei zu den großen musikalischen Erfolgsgeschichten nicht nur des 17. Jahrhunderts. Johann Hermann Scheins zugleich kernige wie geschmeidige Musik hat dazu Bleibendes beigetragen. Zweifellos tönt in seinen Werken der musikalische Barock Leipzigs mehr als nur an.

Anselm Hartinger

 

1. Siehe zur Biographie Scheins die noch immer wertvolle Arbeit von Arthur Prüfer, Johann Hermann Schein, Leipzig 1895 (Reprint Leipzig 1989). Auch Prüfer konnte allerdings nicht davon abgehen, Schein als einen jener Inhaber des Thomaskantorates zu bezeichnen, die vermeintlich daran „mitzuwirken berufen war(en), dem großen Johann Sebastian Bach die Bahn zu bereiten“.

2. Vgl. dazu das neue reichhaltige Buch von Michael Maul, „Dero berühmpter Chor“. Die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren (1212-1804), Leipzig 2012 (v.a. S. 45–64).